Mein erster Franzose oder so stand es nicht im Lesebuch 1964
Als ich das erste Mal etwas von Franzosen hörte, ging ich noch zur Schule. Es muss in der
zweiten Klasse gewesen sein, wo man „Haus“ und „Oma“ und „Igel“ schreiben lernt und für den Kampf gegen
Versuchungen aller Art ausgerüstet wird. Wir hatten einen Rektor, der am Tage irgendeiner Schlacht, in der
Franzosen besiegt worden waren, eine Ansprache hielt. Er sprach vom „Erbfeind“. Wenn wir erwachsen wären, sagte er,
müssten wir wie unsere Väter gegen den Erbfeind antreten und gegebenenfalls unser Leben opfern.
Damals kam es mir so vor, als seien Franzosen Leute, die im Nachbardorf wohnten und dem Rektor Ärger verursacht
hatten. Nach der Rede war schulfrei. Aber am Abend veranstaltete der Rektor einen Fackelzug, wobei er vor dem
Kriegerdenkmal das Lied „siegreich woll'n wir Frankreich schlagen“ anstimmte. Immerhin hatten wir den Franzosen
einen schulfreien Tag und einen Fackelzug zu verdanken, ich habe vergessen, um welche Schlacht es sich handelte.
Schlachten gehen sowieso immer anders aus, als sie angefangen haben.
Leider behielt der Rektor die Oberhand. Es gab zu viele Redner von seiner Art, und eines Tages stand ich
tatsächlich mitten in Frankreich, auf dem Kopf einen harten Hut und in der Hand ein Gegenstand, der Karabiner 98
hieß. Und nun sollte ich gemeinsam mit den anderen den Erbfeind siegreich schlagen. Ich hatte nie einen Franzosen
gesehen. Sie hatten mir nichts – und ich hatte Ihnen nichts getan. Aber ich hatte Balzac, Flaubert, Maupassant und
Proust gelesen und auf dem Gymnasium Französisch gelernt. Es bestand ein Widerspruch zwischen Bildung und Auftrag,
der nicht allein mir zu schaffen machte …
Aber jetzt will ich endlich meinen ersten Franzosen vorstellen. Genau betrachtet, war es eine Französin. Sie besaß
nur eine Stimme wie ein Mann und handelte auch so entschlossen wie ein Mann. Sie war so etwas wie eine Eiche oder
Frauen, besser gesagt, ein Walnussbaum unter Frauen; denn dort, wo wir nach dem Feldzug zur Ruhe kamen und
einquartiert wurden, standen überall riesige Walnussbäume.
Es war ein kleines Dorf mit Kirche, Schule, Schloss und Bürgermeisteramt. Die Häuser waren mit Stroh gedeckt, und
in den Küchen wurde am offenen Feuer gekocht. Ich kam mit einem Soldaten, der von Beruf Gärtner war, zu einer
gewissen Madame Picart ins Haus. Oh, du lieber Himmel, nie werde ich diese Dame, diese fleischgewordene Tyrannin,
diese Seele von Urgroßmutter, vergessen. Ich verstand zunächst kein Wort, aber es ist sicher, dass sie uns gemein
beschimpft hat und nach Hause jagen wollte. Vermutlich hat sie uns Landräuber, Mörder und Hungerleider genannt.
Aber dann muss sie der Anblick zweier Burschen, die eigentlich ganz harmlos aussahen, gerührt haben. Mit einem
„Alors!“ wischte sie den Schwall ihrer zornigen Worte beiseite und gab den Weg ins Haus frei. Wir waren da.
Madame Picart hatte den Tisch bereits gedeckt und zwei Betten frisch bezogen. Es roch aufregend nach Lavendel. Sie
hatte von Anfang an nicht vor, uns als Feinde, sondern als Dummköpfe hinzunehmen. Sehr bald stellte es sich heraus,
dass sie eine Art Stammmutter des Dorfes war, eine „Patronne“, deren Wort in einer Gemeinde gilt. Zahlreiche
Personen erschienen, um sich nach dem Befinden von Madame Picart zu erkundigen und herauszubringen, auf welche
Weise sie die beiden deutschen Soldaten umgebracht hätte ...
Aber Madame hatte nicht vor, uns umzubringen. Allmählich dämpfte sie ihren Ton, und nach dem Essen, das vorzüglich
war, wurde sie geradezu mütterlich. Sie sprach jetzt betulich und langsam. Ich konnte Madame gut verstehen.
Ob wir heute noch Dienst hätten?
Nein, Madame.
Ob wir müde sein?
Nein, Madame.
„Sehr gut“, sprach Madame, „dann gehen wir jetzt ins Heu!“
Ins Heu? Von dieser Minute an standen wir bei Madame als landwirtschaftliche Gehilfen im Dienst. Wir wendeten Heu
und fuhren es ein. Wir spalteten Holz und zerlegten Obstbäume. Wir kälkten den Stall und sammelten Äpfel. Madame
ignorierte ganz einfach den Besatzungszustand. Krieg ist dummes Zeug, sagte sie, nützlich ist nur die Arbeit.
Alors...
Es waren vergnügliche Wochen bei Madame, und nie in meinem Leben habe ich etwas Wilderes und Großartigeres gehört
als die Rede, die sie unserem Spieß hielt, als er uns eines Tages zur Wache einteilen wollte. Ich werde auch nie
etwas hören, was noch wilder und großartiger ist. Ihrer Rede Sinn gipfelte in einem grollenden „Hau ab!“ in reinem
Landser deutsch.
Da stand dieses Weib, verwurzelt in Frankreichs Erde, den Kopf stolz erhoben, die Arme in die Hüften gestemmt, und
schleuderte den Mann des Tausendjährigen Reichs Beleidigungen an den Kopf, die er bis heute nicht begriffen hat –
wenn er am Leben geblieben ist.
Ihr geschah nichts. Niemand hätte sie anzutasten gewagt. Sie war eine gewaltige Frau, die Patronin des Dorfes, die
große Mutter einer wimmelnden Schar von Enkelkindern, den Sie in Ihrem Garten Religionsunterricht gab. Uns hat die
Lehre erteilt, dass Franzosen auch Menschen sind, dass sie Vater und Mutter haben, und dass sie die Deutschen
ebenso wenig kannten, wie wir die Franzosen kannten. Der Erbfeind aus dem Lesebuch war eine Lüge.
Der Himmel rechne es mir an: der Gärtner und ich, wir haben französische Kirchenlieder
mitgesungen und mehrmals zugegeben, dass wir uns nicht hinreißen lassen würden, dass Dorf in Brand zu stecken. Wir
haben Madame Picart versprochen, in ihr Haus zurückzukehren, sobald der Krieg ausgestanden sei. Sie segnete uns,
als es in Russland losging, wobei es wie in der Bibel hielt: Wir mussten uns hinknien.
Zurückkehren? Ich weiß, dass Madame Picarts Dorf mitten im Feuerbereich der Alliierten lag.
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