Der Freibeuter 1965
Er hieß John Rickmer und hatte es in der Kompanie bis zum Stabsgefreiten gehabt. Ich weiß nicht,
ob es diesen Dienstgrad noch gibt. Vielleicht besteht heute so recht kein Bedarf mehr an Stabsgefreiten.
Es war so, daß diese Männer für die Unteroffizierslaufbahn nicht geeignet waren. Deshalb wurden
sie zu Stabsgefreiten befördert und durften im Obergefreiten Winkel einen Stern tragen. Sie hatten fast immer ein
Kommando inne und schoben, so nannten es die Kameraden, eine ruhige Kugel.
Rickmer war Fourier. Er war für die Ausgabe der kalten Verpflegung zuständig. Dieses Kommando
war nicht nur eine ruhige, sondern auch eine nahrhafte Kugel. Es war genau die Art von Planstelle, nach der sich
jeder unlustig dienende Soldat sehnte.
Was mich selbst angeht, so gebe ich zu, daß ich nicht gerade mit Begeisterung den Gewehrübungen
oblag. Im Gegenteil, ich spürte sogar Verdruß in mir aufsteigen. Ich war mehr dafür, am Leben zu bleiben, statt
unter einem Birkenkreuz zu ruhen.
Jedenfalls gelang es mir ab und zu, fußkrank zu sein und zum Innendienst abgestellt zu werden.
Die Fußkranken unterstanden dem Befehl des Stabsgefreiten Rickmer, und mit Rickmer konnte ich gut. Er schickte mich
in den Fourierraum zum Wurstschneiden und zum Abzählen von Zigaretten und Süßigkeiten. Wir machten uns daran, die
Rotwurst in Einhundertvierundachtzig gerechte Portionen aufzuteilen. Das heißt, wer aufteilen mußte, das war ich.
Der Herr Stabsgefreite bettete seinen Körper auf einen Stapel grauer Wolldecken, aß etwas Gutes, trank etwas Gutes,
zündete sich eine Zigarre an und erzählte Schwänke aus seinem Leben als Inselmensch.
Dieses Leben des John Rickmer ist es, das mich zum heutigen Tage gefangen hält. Oh wie ich
diesen Mann um seine Vergangenheit beneidete. Er hatte zum Beispiel überhaupt keinen Unterricht zu genießen
brauchen, weil auf der Hallig keine Schule und nicht einmal jemanden gab, der lesen und schreiben konnte. Ich habe
keine Einzelheit seiner Schilderung vergessen, obwohl jene Tage im Fourierraum irgendeiner Schützenkompanie
fünfundzwanzig Jahre zurückliegen.
Dieser John Rickmer, jetzt sage ich es, stammte von Seeräubern ab. Sein Urgroßvater und alle
seine männlichen Vorfahren waren geköpft, gehängt, erdolcht, erschlagen und einige sogar geteert, und bei
lebendigem Leibe verbrannt worden, just nach dem Seerecht der Zeit, in der sie ihre Untaten ausübten.
Die Rickmers waren sehr beschäftigt mit der Freibeuterei, ihr Feld war die See, und nur alle
zwei oder drei Jahre kehrten sie in ihre Schlupfwinkel zurück, um ihre Söhne in der Kunst des Enterns und Kaperns
zu unterweisen. Der Stabsgefreite steckte voller Erinnerungen an Piratenstücke seiner Sippe, die er als Heldentaten
darstellt. Der Gedanke, daß seine Vorfahren Tunichtgute und Gesetzesbrecher waren, erregte ihn nicht im
geringsten.
Über die Rotwurst gebeugt, kam mich der Wunsch an, wie die Rickmers auf einer Hallig zu wohnen,
rundum nichts als Meer und auf gar keinen Fall Kasernenhofmauern, und unbekümmert um Vorschriften und dergleichen
von vorüberziehenden Schiffen zu leben. Ich stellte mir die Piraterie sehr lustig vor. Sicher war es eine
Angelegenheit für harte Männer. Auch der Stabsgefreite war der Ansicht, daß es damals sehr heiter zugegangen sie,
bis auf das Geteertwerden.
Ich träumte heute noch von dem Haus, das die Rickmers auf einer Hallig in der Nordsee bewohnten.
Der Vorzug, dort in der Einsamkeit leben zu dürfen, fern von Wehrkreisämtern, Finanzbehörden und Wahlurnen hatte in
der Tat etwas Verlockendes.
Natürlich war auch dies ein Irrtum, wie alles, was sich auf die Freiheit bezieht. Sonst wäre, um
bei einem einzigen Beispiel zu bleiben, John Rickmer nicht Soldat geworden. Immerhin war es ihm geglückt, gewisse
Fähigkeiten seiner Vorfahren in dieser Planstelle vorteilhaft einzusetzen. Und der Krieg? Der Krieg mußte ja
verloren gehen, wenn ein Pirat die Wurstverteilung unter sich hat.
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