Theaterbesuch Anno Dunnemals
Auf das Theater bin ich zuerst aufmerksam gemacht worden durch meine Großmutter.
Wir hatten an einem Herbstnachmittag zusammen ein Stück gesehen, das „Schneewittchen" hieß und von den Kindern
eines Waisenhauses in unserem Dorfkrug aufgeführt wurde. Die Nonne, die mit den Kindern das Werk einstudiert hatte,
stand während der Aufführung auf der Bühne und klatschte jedesmal in die Hände, wenn die Wichtelmänner
irgendetwas tun sollten.
Nach der Vorstellung sagte der Pfarrer, dass er und mit ihm alle Anwesenden
ergriffen wären und dass man den Waisenkindern dankbar sein müsse für den höhen Kunstgenuss, den sie der Gemeinde
geboten hätten. Es war im Dorf eigentlich nicht üblich, Theater zu spielen.
Daheim erzählte mir die Großmutter, dass es gar nicht das richtige Theater
gewesen sei, sondern eben nur so ein Waisenhauskinder-theaterchen, das in der großen Welt keineswegs ernst genommen
würde. Die Großmutter war einmal in der großen Welt gewesen und hatte eine richtige Vorstellung mit richtigen
Künstlern in einem richtigen Theater erlebt. Es war eine Darbietung gewesen mit Musik, und es war dazu gesungen
worden. Den Titel des Stückes hatte die Großmutter vergessen. Nun, es war ja auch schon lange her, seit sie die
Vorstellung gesehen hatte.
Wenn Großmutter nicht gerade „in der Welt" war, wie sie sich auszudrücken
pflegte, lebte sie auf einem Bauernhof bei Bersenbrück. Damals verkehrte noch keine Eisenbahn zwischen Osnabrück
und Oldenburg. Wer in der Stadt zu tun hatte, mußte sich den Rössern anvertrauen. Einmal im Jahr, gewöhnlich in
der Zeit vor Weihnachten, machte Großmutters Familie einen Ausflug in jene Welt, darin so wunderbare Dinge
geschehen konnten wie Theater und Musik und Bühnengesang.
Die Eintrittskarten wurden durch die Post bestellt. Wochen hindurch sprach
Großmutters Familie von nichts anderem als vom Theater. Man bereitete sich auf den Kunstgenuss vor wie auf ein
unerhörtes Fest. Das Lederverdeck der Kutsche wurde mit Fett geschmeidig gemacht, die Achsen wurden geschmiert
und die Polster ausgebürstet.
Dann war die große Morgenstunde da. An der Landstraße fielen die letzten Äpfel in
den Graben. Brot und Wurst und Eingemachtes lagen in der Haferkiste; es war ein Vorrat für mehrere Wochen.
Großmutter konnte sich nach so vielen Jahren noch daran erinnern, wie ihr Jungmädchenherz gezittert hatte bei dem
Gedanken, dass sie leibhaftige Künstler zu Gesicht bekommen und ein vollständiges Orchester hören würde. Auf der
ganzen Fahrt war nur von Kunst die Rede. Die Eltern saßen auf dem Bock. In der Kutsche hockten drei Töchter, alle
miteinander mit Grütze vollgestopft und in derbe Woilache eingehüllt.
Das Theater war - nach Großmutters Angaben - ein palastartiges Gebäude, das „gut
genug war für den Kaiser". Ach, ihr Geist ging unter in dem Glanz, der sich da auf-tat. Sie war einfach nicht so
stark, all diese Pracht und Kunst gefasst hinzunehmen. Ihr ganzes Leben lang hat sie von den schönen Damen in den
Logen, von den Offizieren im Parkett und von dem Gehabe der Künstler geschwärmt.
Im Herzen dieser Frau hatte eine gewiss nicht erstklassige Operettenaufführung
ein loderndes Feuer für die Bühne entfacht. Großmutter hat nie wieder ein Theater besuchen dürfen, sie hatte sogar
den Titel des Werkes vergessen, aber der Glanz, der Glanz dieses Schmierentheaters in der Großen Gildewart umgab
sie bis zuletzt.
Sonnabend, den 3. Oktober
1959
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