Dieser Junge reist nach Lorup
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Bevor ich ins Gymnasium aufgenommen wurde, um die lateinische Sprache zu lernen und Geistlicher,
Arzt oder Aufsichtsratmitglied bei Daimler-Benz zu werden, sollte ich die Welt kennenlernen. Ich war damals zehn
Jahre alt, und meine Eltern wohnten in Köln. Im Rahmen der Möglichkeiten, die monatelang erörtert wurden, erlaubte
man mir eine Ferienreise nach einem Ort namens Lorup.
Lorup lag, von Köln aus gesehen, am Ende der Welt. Eine Schwester meiner Mutter war dort als Lehrerin angestellt.
Ich glaube nicht, daß es in der Stadt Köln, die damals schon mehrere Millionen Einwohner zählte, außer meiner
Familie jemanden gab, der Lorup kannte.
Im Haushalt der Loruper Tante lebte auch die Großmutter, eine strenge alte Dame, die mir verboten hatte, im Umgang
mit ihr „wat"? zu sagen. „Es heißt was", belehrte mich die Großmutter, „wat sagen nur die Kölschen." Immerhin hatte
Lorup mit dem „hilligen Köln" gemein, daß es den Beinamen „Sanktus" führte, also ebenfalls heilig war.
Um gewisse Schwierigkeiten bei der Eisenbahnfahrt nach Sanktus Lorup von vornherein zu mildern, fertigte man mir
ein Pappschild an, auf dem geschrieben stand: „Dieser Junge reist nach Lorup." Das Schild sollte ich an einem
Bindfaden um den Hals tragen, und ich trug es auch solange um den Hals, bis ein Mädchen in meinem Alter fragte: „Du
bist doof, wat?"
Ich hatte nicht vor, doof zu sein. Ich wollte genauso normal sein wie die anderen. Deshalb riß ich das Schild ab
und setzte mich darauf. Das Schild unterm Hosenboden änderte aber nichts an dem Umstand, daß ich nach Lorup fuhr
und daß ich fünfmal umsteigen mußte.
Auf einem Zettel hakte ich die Stationen ab, die der Zug passiert hatte, und ich bibberte geradezu vor Angst, daß
es mir zustoßen könnte, statt in Lorup in der Nähe des Nordpols oder sonstwo anzukommen. Lorup lag, das wußte ich
aus den Erzählungen meiner Mutter, im Hümmling, worunter ich mir eine von Schafen und strumpfstrickenden Hirten
wimmelnde Landschaft vorstellte.
Ich bin ziemlich sicher, daß ich in Lorup angekommen bin, allerdings nicht ohne Ängste und Abenteuer
mannigfaltigster Art. Allen Mädchen zum Trotz, die mich für doof hielten, lehnte ich das Schild mit dem Hinweis,
daß ich hier in der Eisenbahn derjenige war, der nach Lorup reiste, an meinen Koffer.
An jenem Tage müssen nur Beamte unterwegs gewesen sein, die irgendwann in ihrem Leben das Wort „Lorup" oder
jedenfalls „Hümmling" gehört hatten. Ihrer Intelligenz verdankte ich es, daß ich in Münster, Rheine, Lathen, Sögel
und Werlte tatsächlich den Zug verließ.
Für den letzten Teil der Reise, den von Werlte nach Lorup, mußte ich eine Pferdedroschke mieten. Es stellte sich
heraus, daß die Tante Bescheid gesagt hatte; denn der Fuhrmann wartete bereits auf dem Bahnsteig und hielt Ausschau
nach dem Jungen aus Köln. Es war schon tiefe Nacht, als die Kutsche über Kopfsteinpflaster und Sand durch eine
gespenstische Mondlandschaft rumpelte.
Im Haus der Tante roch es nach Tannäpfeln, Torf, Fußbodenöl und Geräuchertem. Düfte, die so eindringlich waren, daß
ich sie bis heute nicht verloren habe. Ich mußte in einer Zinkbadewanne schlafen, weil die Tante nicht darauf
eingestellt war, daß jemand sie besuchen und zur Nacht bleiben würde, und es regnete fast die ganze Zeit über. Der
Regen prasselte auf das Blech, mit dem das Schulgebäude gedeckt war, so daß ich Angst bekam und heimfahren
wollte.
Ich weiß nicht mehr viel aus jenen Ferien. Überall lagen Heidschnucken- felle, vor dem Sofa, vor dem Klavier, vor
dem Bett, und im ganzen Dorf gab es - so schien es mir - nur ein einziges Buch. Es war der gebundene Jahrgang einer
Zeitschrift, die „Stadt Gottes" hieß und den sich die Tante ausborgte, um etwas für meine Bildung zu tun.
Aus irgendeinem Grunde versammelten sich abends die Schulkinder zur Andacht. Meine Tante führte dabei die Aufsicht.
Sie stand in ihrem schwarzen Lehrerinnenkleid inmitten der Kirche und zählte ab, indem sie auf jedes Kind mit dem
Finger deutete. Die Kinder und auch die Erwachsenen trugen Holzpantinen. Das Kirchengewölbe war erfüllt von einem
seltsamen, in dieser Welt der Gummisohlen niemals wiederkehrenden Trommelkonzert, das die Berührung Hunderter von
Pantinen mit den steinernen Fliesen hervorrief.
Der Gottesdienst brachte es mit sich, daß die Kinder sich erheben und setzen mußten, und jedesmal mischte sich das
Getrommel ihrer Holzschuhe mit dem Brausen der Orgel, ad majorem dei gloriam - zur größeren Ehre Gottes.
Einige Jahre später wurde die Kirche erweitert, und das Grab meiner Großmutter befindet sich dort, wo heute der
Hochaltar steht. Sie hieß Katharina Maria Theresia Huser und war eine geborene Heithaus aus Bersenbrück, aber - ich
frage mich - wen interessiert das?
Erschienen am 16.08.1968 im Kirchenbote Osnabrück
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