Das vielgeküßte Mädchen (1964)
Ins Nachbarhaus ist mit den Eltern ein junges Fräulein eingezogen, das uns älteren Herrschaften
durch seinen Liebreiz auffällt. Das Fräulein ist schon aus der Schule heraus und besucht die Universität. Es
studiert Volkswirtschaft, eine Wissenschaft, die sehr der Auflockerung durch weibliche Intelligenz und Schönheit
bedarf. Allzulange haben wir griesgrämigen Kerlen dieses Feld überlassen müssen.
Aber nun wird sich alles wenden, nachdem das Fräulein sich der Sache angenommen hat. Zu der Bewunderung, die wir
der Schönheit des immatrikulierten Fräuleins entgegenbringen, gesellt sich Respekt vor der Aufgabe, die Ihr
gestellt ist.
Ich gestehe, daß ich in Angelegenheiten des Fräuleins mehr Glück gehabt habe, als mir zustand, so daß ich an dieser
Stelle in der Lage bin, Mitteilungen zu machen, die einen Blick in die Intimsphäre des schönen und dazu klugen
Mädchens gewähren. Ich lernte nämlich die Mutter kennen. Es war im Milchladen nebenan. Der Weg zur Tochter führt ja
nicht ungern über die Mutter.
Sebalda, so heißt das Mädchen, wurde in jenem Jahre des Unheils in einem mecklenburgischen Dorf geboren, als sich
der Krieg dem Ende näherte. Kanonen wummerten an der Wiege der Neugeborenen, und der Feind stand vor der Haustür.
Es waren zunächst Amerikaner. Nun ist es so, daß eine junge Mutter, die ein Baby spazieren führt, selbst dem Herzen
des rauhesten Kriegers eine wohlwollende Regung entlockt, und so war es auch hier. Die Soldaten, durch ihren Sieg
ohnehin milde gesonnen, machten der Mutter Komplimente und schenkten dem Baby Vitamintabletten, so daß beide
prächtig vorankamen.
Bald wurden die amerikanischen Soldaten von britischen abgelöst, die sich nicht einmal in der Sprache voneinander
abhoben. Auch die Engländer wollten mit dem Baby, das ein schönes Baby war, "rockring
up and down" machen, und gaben ihm Weißbrot und Schokolade. Es scheint so gewesen zu sein, daß die Mama das herzige
Kindchen zum Dank für Vitamine und dergleichen umherreichte und geschlossenen Auges duldete, daß es geküßt
wurde.
Wir nehmen an, daß die Mutter innerlich vor gerechtem Zorn und Abscheu vor Bakterien gebebt hat - aber wo sollte
sie in jenen Jahren das tägliche Brot hernehmen? Außerdem sind Feinde, die danach lechzen, ein Baby zu liebkosen,
nicht die schlimmsten Feinde. Im Gegenteil. Ich behaupte, daß dieses Wickelkind für unser aller Zukunft große
vaterländische Taten verrichtet hat. Vielleicht begann in Sebalda damals schon der Gedanke einer soziologischen
Karriere zu keimen. "Sebalda", so berichtet die Mutter, "wurde von Amerikanern, Engländern und Russen geküßt."
Russen waren also auch unter den Liebhabern? Amerikaner und Engländer läßt man sich ja gefallen. Aber Russen - das
kann doch nicht wahr sein? "Doch", sagte die Mutter, und ich habe den Milchladen zum Zeugen, "es ist wahr. Die
Russen sind in mancher Hinsicht netter als die Amerikaner. Sie haben Gemüt und sind sehr kinderlieb." Nur mußte die
Kost auf schwarzes Brot und saure Gurken umgestellt werden, was anfangs Schwierigkeiten verursachte, aber das
völkerversöhnende Küßchen blieb bei der alten Qualität. Es trug auch hier zur Verständigung bei und räumte
Mißhelligkeiten aus dem Wege. Sebalda kam sozusagen dem ganzen Dorf zugute. Manche Untat an Erwachsenen wurde nicht
verübt, weil das Kind die Herzen der Sibiriaken rührte.
Der Umstand, daß die Mutter so offenherzig dieses Thema besprach, läßt an der Unschuld keinen Zweifel aufkommen.
Für uns ist nicht das Küßchen wichtig, sondern die Erkenntnis, daß Soldaten, welcher Nation sie auch angehören, im
Grunde genommen doch lieber küssen als killen. Und das tröstet uns.
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