Unser Tanzlehrer  1973

Der alte Sievers war Schuster, aber er hatte als junger Mensch beim Militär Boxen und Ringen gelernt. In der Hauptsache, sagten die Leute, wäre er allerdings Tanzlehrer gewesen, vorausgesetzt, dass an der ganzen Sache überhaupt etwas Wahres dran war.
Jedenfalls gab der alte Sievers sich damit ab, den jungen Männern im Dorf ein paar Grundstellungen beim Boxen und gewisse Griffe beim Ringkampf beizubringen und die jungen Burschen sich unter seiner Aufsicht »fachmännisch« prügeln zu lassen.
Der alte Sievers konnte sich noch an Wilddiebe und Hundefänger erinnern und an den Tag, an dem sie in Spichers Hotel Kaisers Geburtstag gefeiert und das Klavier, auf dem die Hymne geklimpert worden war, durchs Fenster auf die Straße geworfen hatten, und es war ein Sozialist gewesen, der das gewagt hatte.
Am liebsten sprach er über einen Mann, der den Friseurberuf ausgeübt und ihnen gelegentlich auch Zähne gezogen hatte, ohne Betäubung, versteht ihr, was in dem Rasiersalon jedes Mal ein großartiger Spaß gewesen war für diejenigen, die keine Zähne mehr besaßen. »Verdammt, verdammt«, sagte Sievers, »das waren noch Zeiten!«
Es muss so gewesen sein, dass sie beim Militär gewisse Fähigkeiten des Kanoniers Sievers Josef erkannt und ihn als Ordonanz zum Tanzunterricht abkommandiert hatten; denn neben seinem Diplom als Schuhmachermeister, unterzeichnet vom Präsidenten der Handwerkskammer, hing ein Zertifikat, das ihm die zeitweilige Tätigkeit als Tanzlehrergehilfe beim Regiment bescheinigte. Diese Urkunde war, um bei der Wahrheit zu bleiben, nicht von Kaiser Wilhelm persönlich, sondern von einem Zahlmeister unterschrieben, was ja auch schon bemerkenswert war.
Der Meister nahm immer nur wenige Burschen in die Lehre, um ihnen zu zeigen, wie man sich zur Wehr setzt und wie man sich auf dem Tanzboden bewegt. Damen waren bei diesem Unterricht, der meist in einer Scheune oder auf der Diele im Viehstall stattfand, nicht zugelassen. Damen müssen auch wohl beim Kursus in der Kaserne nicht erforderlich gewesen sein. Ich fragte mich damals schon, was ein Walzer ohne Dame eigentlich für ein Genuss sein sollte. Aber unser Schuster und Tanzlehrer hatte seine Erfahrungen mit Damen hinter sich. Er war unter allen Umständen gegen weibliche Beteiligung an unserem Lehrgang.
Wir legten selbstverständlich auch Pausen ein, ja, die Pausen waren geradezu das Wichtigste. In den Pausen gab es für jeden von uns ein Gläschen Schnaps, für den Meister allerdings mehrere »doppelstöckige«, die er ohne abzusetzen hinabspülte. Er gab dann Geschichten aus dem Krieg in Russland zum besten.
Der Meister hatte bei der Kavallerie gedient und es in der Hauptsache mit Kosaken zu tun gehabt. Kosaken waren verwegene Reiter aus der asiatischen Steppe, die das Fleisch unter dem Sattel garritten und am Lagerfeuer Lieder zur Balalaika sangen, und Wodka soffen sie die Menge. Aber obwohl Kosaken gutmütige und liebenswerte Burschen waren, sollten sie aus irgendeinem Grund niedergemacht werden. Und vergessen durften wir auf keinen Fall, dass sie einem Mann aus unserem Dorf, dem Gemeindeboten Komecker, den rechten Arm abgesäbelt hatten.
»Attacke hurra!« kommandierte der Meister, und übermütig stürmten wir Tanzschüler mit Mistgabeln und Stangen und allem, was nach Lanze aussah, gegen eine Woge herandonnernder Kosaken, um irgendwas zu retten. Aber es war niemals ganz klar, was gerettet werden sollte, das gemeinsame Vaterland oder einfach nur der verlorene Arm des Gemeindeboten.
Das Honorar für Sievers bestand aus Schnaps, für den wir Schüler das Geld zusammengelegt hatten. Geld lehnte er ab. »Kunst«, sprach der Meister, »ist unbezahlbar.«
Wenn der Unterricht beendet war, sagte er, dass er uns jetzt zeigen werde, was ein Mann seiner Art vermag, der beim Kaiser Tanzlehrer gewesen ist und gegen Kosaken gekämpft hat. Er bestieg einen Schemel, den er eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und fing an, sich zu drehen und aus den Drehungen einen Walzer zu machen.
Ich sehe ihn dastehen, die Arme über der Brust verschränkt, den Bauch voll Fusel, das Herz voll Feuer, den Kopf voll Erinnerung. Wir klatschten den Walzerrhythmus mit den Händen, wir johlten und schrien, und nach dieser Teufelsmusik drehte sich der Meister auf der handtuchkleinen Fläche, schnell und schneller, jetzt kein Schuster mehr, sondern ein Kosak durch und durch. Drehte sich in einem rasenden Wirbel, bis er nach einer Weile mit einem Schrei vom Schemel herabsprang.
»Na«, sagte er stolz, »das macht mir einmal nach, ihr Heinis.«