Kirschblüte im Teutoburger Welt
Osnabrück, im April
Gegen Mitte bis Ende April beginnt im Teutoburger Wald die Kirschblüte. Es ist, als hätte die
Landschaft aus einem geheimnisvollen Grunde eine Vorliebe für Kirschen. Nirgendwo sonst haben sich derart viele
Kirschbäume zusammengetan, um das Rot der Dächer, das Braun der Äcker, das Grün der Wiesen mit einem silbernen
Netz von Blüten zu bedecken. Es ist eine Explosion in Weiß, eine Orgie in Silber, ein phantastischer Ausbruch von
Fruchtbarkeit.
Das Land verwandelt sich unter dieser Blütenpracht in ein irdisches Paradies von beglückendem Reiz. Dieses Weiß
der Kirschblüte kennt Nuancen, die einen Maler, wenn er ehrgeizig ist, in Raserei versetzen können: Vor dem
Hintergrund jener smaragdgrünen Wiesen, die es im Bergland gibt, erhält es die sanftmelancholische Wärme guten
Porzellans. Vor dem verwitterten Rot alter Backsteinmauern kann es wie Perlmutter schimmern. Gegen den
lapislazuliblauen Himmel sticht es wie Silber ab. Und des kalkig blauen Anstrichs der Fachwerkhäuser erbarmt es
sich mit mütterlichem Weiß, wie Persil gewaschenes etwa, eine hausfraulich brave Schürzenhelligkeit.
Die Kirschbäume umdrängen die Bauernhöfe und Arbeitersiedlungen wie gute Wärter. In dieser Dekoration kommt stärker
als in Eichenhainen Sinn für Schönheit und Lebensgenuss zum Ausdruck. Es ist eine fröhliche Landschaft. Ein Genius
muß damit begonnen haben, statt der Eichen Kirschen zu pflanzen. Er hat für Jahrhunderte den Grundstock zu einem
einzigartigen Fest geschaffen, dem Fest der Kirschblüte im Teutoburger Wald.
Über Nacht hebt es an. Schwarzdrosseln und Grasmücken beginnen es anzusingen. Farblose Knospen, zuckrig dem
schwarzen Reis entsprungen, fangen an zu platzen. Unter dem Anhauch warmer Winde wuchert das Weiß über Berg und
Hügel, durch Schluchten und Täler, sogar im Walde zünden die wilden Kirschbäume ihre weißen Flammen an. Es lodert
und brennt. Es züngelt und prasselt. Es verschwendet sich in maßloser Üppigkeit.
Die Häuser feiern mit, die Gärten und Kirchtürme, der Wald, die Äcker, die Landstraße und der von Brettern umzäunte
Schweinekoben. Alles scheint auf diese Stunde gehofft zu haben. Alles schmeichelt sich in dem Abglanz dieser Blüte,
die keinen Hochmut kennt. Alles labt sich an dem Silberrausch, der plötzlich die Kirschbäume befallen hat.
Es ist erstaunlich, wie anders mit einem Male eine Scheune aussieht, vor deren zerknitterte Ärmlichkeit sich ein
blühender Kirschbaum stellt. Schwellendes Silberweiß verschönt rostige Ketten und morsches Gebälk. Altes Gemäuer
tut sich wieder jung, und berstender Lehm will schön sein. In alle diese Dinge hat sich ein neuer Ton eingesungen,
jetzt nach der Trostlosigkeit des Winters, eine Melodie, die anhält, die sommerlang nicht verstummen wird. Von
dieser Kirschblüte im April nimmt die Landschaft bis in den September hinein Akkorde mit. Von dieser Blüte strahlt
eine Heiterkeit aus, die ernste Dinge unwichtig und wichtige Dinge töricht macht. Mit weißen Knöcheln klopfen die
Bäume nachts an die resedagrünen Läden der Fenster.
Idylle bieten sich an, die liebenswürdiger sind, als das Herz je zu hoffen wagte. Im flimmernden Schatten der
Blütenbäume ruhen Lämmer und Fohlen. Sauen grunzen ihre Fressgier in die schokoladenbraune Erde. Enten schnattern
am Bach, der sich eisblau durch die messinggelbe Schlüsselblumenwiese drängt. In der Mittagsstille gackern Hühner
auf der Tenne. Die Bäuerin ist dabei, Zwiebeln ins Beet zu stecken. Drüben eggt der Bauer mit seinen Pferden den
Acker, und auf der Straße ist der Knecht mit Mist unterwegs. Der Hund bellt hinter einem Radfahrer her.
Dann ist wieder Stille. Zeltlose, rundfunkleere, gemästete und in sich zerfließende Stille. Zitronenfalter und
Pfauenaugen schweben dahin. Stare klappern. Tauben fallen in den Acker. Die Bäuerin verhält ein wenig. Im
Aufstehen nimmt sie den Duft der Kirschblüte wahr, diesen erregenden Duft des Lebens, des Frühlings, des Daseins
in diesem Raum.
Von Bernhard Schulz
Die Welt 12.April 1961
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