Der tote Mann
Als die bleierne Kapsel gesprengt war und der Waggon sich knirschend auftat, erwarteten alle,
der Tote müsse herausgesprungen kommen, oder zum Mindesten starre einem ein knochenkahler wächserner Schädel
entgegen. Die Leute zitterten ein wenig, es war noch nie ein Leichnam mit der Eisenbahn angekommen, wahrhaftig
nicht. Es war eine irrsinnige Idee, diese Reise. Manche Menschen kamen ihr Leben lang nicht aus den vier Wänden
heraus und dieser tote Mann hier fuhr blind durch himmelanstürmende Gebirge, durchquerte unerregt die wilden
Herden der Büffel, hörte nicht die Wasserfälle rauschen und sah die Pferde nicht galoppieren, lag nur tot und
stumpf in seiner Lade, über Land und Meer, eine Erdenlänge weit ...
Die Leute hoben die Hand zum Herzen und verhielten den Atem vor Spannung. Aber es war nur ein großer schwarzer
Verschlag, der inmitten des Waggons stand, seltsam hoch, einer Werkzeugkiste nicht unähnlich. Ja, sie hatten schon
oft solche Kästen gesehen, als die Straße gebaut wurde, zum Beispiel. Ein wenig wich die Angst, man kletterte in
den Waggon und ging langsam um den Verschlag herum. Es war festes gutes Holz, wie man es hierzulande nicht kannte,
schwarz, tiefschwarz, aber man wusste natürlich nicht so sehr genau, welches Holz es da in Südamerika gab. „Esche
vielleicht“, meinte der Schreiner. Er wollte zu Hause mal in einem Buch nachschlagen, in einem Kalender für den
gesamten Holzhandel, wie er sagte.
Dann spuckten sie in die Hände, die vier Männer und schoben den schweren Kasten feierlich über eine Rollschiene auf
den Planwagen. Im Licht sah das Holz nun doch etwas grau aus, nicht mehr ganz so schwarz, es war hier und da sogar
stark zerfasert und angeschrammt. Nun ja, eine lange Reise hatte der Mann hinter sich. Vielleicht hatten Guanacos
den Toten schon getragen, der starke Rücken eines chilenischen Hirten? Dampfkessel waren seinetwegen geheizt
worden, Motoren mussten in Gang gebracht werden, Schiffsschrauben wühlten sich krachend durch glasgrünes Meer ...
In Hamburg musste die Polizei an Bord gehen und die Papiere des toten Mannes prüfen, es war für ihn nicht leicht,
vom Fuße der Anden bis in ein kleines deutsches Dorf zu gelangen. Und nun hatte er also endlich sein Ziel erreicht.
Zwei Monate war er unterwegs gewesen. –
Als er aus der Schule entlassen wurde und kaum fünfzehn Jahre alt war, hatte ihn ein Onkel mit
nach drüben genommen. Dort hatte er später eine große Farm geerbt. Rinderherden, Weizenfelder, Pferdekoppeln,
kein Mensch konnte diesen Reichtum abschätzen. Als alter grauer Mann hatte er dann den Wunsch gehabt, in seinem
Geburtsort in der fernen Heimat Deutschland zu sterben. Aber ein paar verwegene Burschen waren ihm zuvorgekommen
und hatten ihm bei einem Raubüberfall von unten ein Messer in den Leib gestoßen ... Nun schickten ihn seine
Angehörigen nach Deutschland. In einem Schreiben, das über viele Behörden gegangen war und endlich auch dem
Bürgermeister jenes Dörfchens zugestellt wurde, war das ganze Unglück dargestellt und der tote Herr Wilhelm
Josef Nadelreuth allen Verwandten, Freunden und Bekannten in der alten Heimat christlich empfohlen. Dem
Schreiben beigefügt war die Bitte, man möge bei der Ankunft den Toten identifizieren, sein Kennzeichen sei eine
rote Krawatte.
Ein alter Bauer namens Nadelreuth lebte noch in dem kleinen Dorf und viele von den ganz welken
Leutchen konnten sich darauf besinnen, dass in ihrer Jugendzeit ein Knabe der Familie Nadelreuth ausgewandert
war. Freilich hatte man nie mehr etwas von diesem Menschen gehört, es sollte zudem ein stilles, sehr scheues und
fast ängstliches Kind gewesen sein, das wohl in der Fremde erst, im Bereich der Gefahr, aus sich herausgewachsen
war. Es hieß allgemein, dass er sich bei jenem Raubüberfall durchaus nicht als der Schwächste gezeigt hätte,
zwei dieser chilenischen Straßenräuber seien gefährlich verletzt worden, vielleicht schon tot und überhaupt
...
Nun, die Leute wussten eine Masse zu erzählen.
Jetzt gingen sie neugierig hinter dem Planwagen her und halfen, den Kasten herunterzukriegen.
Erst standen sie alle erschrocken umher und wussten nicht, wohin mit der Leiche und was denn nun eigentlich. Dem
alten Nadelreuth, der ein Vetter des Verstorbenen war, liefen Tränen über die Wangen, so erregte ihn die
Heimkehr des verwandten Blutes. Ein wenig stumm waren sie nun alle geworden, die Frauen standen furchtsam vor
der Haustür, die Kinder gafften und auf der Straße stieg ein Fremder aus seinem Auto. Da öffnete der alte Bauer
die Tenne und gab den Männern zu verstehen, dass hier die Leiche aufgebahrt werden solle.
Der Schreiner nahm den Verschlag ab, Brett um Brett. „Ein verdammt massives Holz“, sagte er.
Plötzlich stand da ein helles Ding aus Zinn oder Eisenblech oder was es war, aber es hatte jetzt schon eher die
Form eines Sarges. Es gab keinen Zweifel mehr, der Tote war heimgekehrt. Bisher hatte es immer noch ein Irrtum
sein können. Die Frauen schlugen ein Kreuz und die Männer nahmen ihre Mützen ab ...
Dann musste der Schmied den Sarg öffnen. Es bestanden darüber genaue Vorschriften, der Sarg war teuer, das Material
darüber musste ordentlich zurückgeschafft werden, nicht alle Tage wird ein Sarg geöffnet. „Nun komm schon!“ sagte
der Schmied beim Schneiden. Der Angstschweiß tropfte ihm von der Stirne. Als er den Deckel beiseitelegte, stand da
der richtige Sarg, das Haus des Toten. Es war ein flacher, viereckiger Kasten, mit grünem Leder überzogen, ohne
Schmuck. Man sah gleich, dass es etwas Ausländisches war. Den Leuten klopfte das Herz bis in den Hals hinauf, die
Aufregung machte sie ganz schwach, sie wollten weggehen, nach Hause, in den Stall oder irgendwohin, aber sie
machten nur ein paar Schritte und blieben stehen. „O Himmel“, sagten sie. Den Sarg hoben sie auf zwei Küchenstühle
und hängten etwas Tannengrün daran. So.
Im Stall muhten die Rinder, ein paar Hühner kamen ruckartig angeschritten, eine Kette klirrte – das bäuerliche
Leben floß weiter. Die Leute standen ganz still, die Männer hielten die Hüte vor die Brust gedrückt, wie auf alten
Bildern und die Frauen fassten einander an den Händen.
Durch die offene Tenne kam etwas Kaltes angeweht, Schneeiges, Geruch nach Erde... Und jetzt wussten sie auch, was
geschehen sollte. Der alte Bauer schob, genau, wie es in dem Brief gestanden hatte, den Kopfteil des Deckels ein
wenig nach vorne. Der Sarg war so eingerichtet, dass man den Deckel wegschieben konnte. Da lag der Tote, Wilhelm
Josef Nadelreuth, Herr erbarme Dich seiner. Die Hände waren übereinandergelegt, das sahen sie als erstes. Das
Gesicht war natürlich stark eingefallen, wie bei alten Männern, aber glatt rasiert und freundlich rot, gepudert.
Der Anzug war schwarz, tadellos neu, dazu trug der Tote auf einem schneeweißen Hemd die leuchtend rote Krawatte,
das Kennzeichen.
Sie warteten alle ringsum und guckten hin. „Dat is hei“, nickte der Alte. Die Frauen weinten leise und die Männer
standen traurig da, ergriffen und wie abgesägt.
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