Bildnis eines Mannes, den die Straße rief
Silbergraue Fäden im Haar, wie die Landschaft ihren Altweibersommer hat. Nach Art der Künstler
und Kauze ließ er das Haar, das ungekämmte, wachsen, daß es in dichten Flocken um den Kopf steht. Das unterscheidet
ihn von den seßhaften Menschen, denen Barbiere als gesellschaftliche Fessel auferlegt wurden, nur in soweit, als er
weder ein Künstler noch ein Kauz ist. Er, der ,,Jirret" oder „schwarzer Doktor", wie ihn die Leute nennen, ist ein
Gebilde der Landstraße, der Scheunen und der winterlichen Bauernstuben. Er will gar kein Kauz sein; er kann es,
weil er nicht weiß, daß er einer ist. Ihn schmückt das Löwenhaupt des Patriarchen.
Da leuchtet die Sonne blau vom Himmel und der Winter orgelt durch das Land. Die Sonne brennt
heiß auf die Wege herab, es knirscht der Frost in den Dorfteichen: und immer ist der Mann da, den die Straße
rief.
Es begann so, daß er einen Eichenknüppel nahm und davonrannte. Irgendwann mal, als er stark und
fast noch ein Kind war. Er wanderte die Straßen auf und ab, von Bach zu Bach, von Baum zu Baum, von Berg zu Berg,
nach einem ungeschriebenen Gesetz wanderte er dahin mit keinem anderen Ziele als dem, keins zu haben. Das ist der
Gipfelpunkt des Philosophischen. Oder dem Gebot der Arbeit ein Schlag ins Gesicht. Aber feste.
Er brachte, als er den Entschluß faßte, das bürgerliche, uns von Gott dem Herrn diktierte Leben
als irrig aufzufassen, nicht den Mut auf, daraus zu scheiden. Er begab sich, geräuschlos wie ein Junge sich am
Kohlenholen vorbeidrückt, hinter die Kulissen und betrachtete das Schauspiel des Lebens, das Mützenziehen,
Kohlenholen und Kinderkriegen, aus der Vogelschau. Der Narr! Er stößt mit der Zunge an, und auch das ist wie bei
Narren. Vielleicht nicht? Doch er weiß, daß er selbst die Rolle des gefügigsten Tragöden übernommen hat. Sie ist
ihm gut genug.
Seht, er steht in Mitten einer Schar von Schulkindern, die eben noch gesungen haben,
Kirchenlieder wohl? Er zieht ein Kastanienblatt durch den Mund. Er bläst darauf: „Puppchen, du bist mein
Augenstern". Da müssen die Kinder lachen. Auch er lacht. Es gefällt ihm, daß die Kinder ihren Spaß an ihm haben. Er
macht die seltsamsten Kapriolen und erzählt die lustigsten Geschichten .... heidi, heida! Dabei verrutscht sein
Schlips, die Brotbeutel Iugen unter seinen Rockschößen hervor und beginnen einen einfältigen Tanz. Ein Knopf
springt zur Erde. Was braucht er ihn aufzuheben? Hat er eine Nadel, damit zu nähen? Er kann es sich leisten, mit
durchbohrten Ellenbogen aufzutreten: - Puppchen, ich hab dich gar so gern!
Die Bauern sehen es gerne, wenn er kommt. Besonders um die Abendzeit. Wenn sie unter den Linden
sitzen und rauchen. Sie nötigen ihn zu Tisch, füttern ihn, mehr als er mag, und hören sich sein tolles Gerede an.
Von den Schnecken weiß er zu berichten, die vor dem Regen auf der Straße sind. Er kennt die Natur wie seine
Westentasche. Sie ist sein Ein und Alles. Er schläft bei ihr und nimmt von ihr zu essen. Nichts in ihr ist fremd
und doch ist alles durchfiebert von Geheimnis, undeutbar und dunkel, wie es in den alten Kirchen die Bilder sind.
Er brütet über Spukgestalten und grünen Sagen, in denen Drachen vorkommen und Ritter, er schreckt die Kinder
damit... huch! Dann spreizt er wohl die Finger und seine Augen erstarren vor Düsternis.
Bald löst sich sein Gesicht aus dem Netz der Falten und Fältichen, der Wangentäler und der gewölbten Gebirge über
den Augen, ein helles, schalkthaft weises Lachen springt daraus. Er kann lachen, daß es alle mitreißt.
Er stellt sich hinter einen Stuhl und nimmt die Gesten eines Predigers an. Er predigt gegen die
Habsucht der Menschen, ihre Lust und ihre Falschheit. Was er sagt, ist dann bei aller Verlorenheit ins Groteske von
einem tödlichen Ernst umwittert. Er kennt, scheint es, die Straße wie den Menschen, der daran wohnt, in- und
auswendig. Er gibt ihnen gute Lehren mit, die Lehren eines Predigers. Doch sie lachen nur und vergelten es ihm mit
Erbsensuppe, als hätten sie soeben einen guten Spaß an ihm gehabt, während er doch nur mit jedem Worte
unerbitterlicher und trotziger den menschlichen Sünden zu Leibe geht; endet doch alles bei ihm mit einem
Bibelspruch.
Man muß ihn sehen, wenn er, ein Savonarola der Lächerlichkeit, vor seiner Gemeinde bäuerlicher
Knechte steht, wie er sie zur Tugendhaftigteit ermahnt und Schnaps als den Tribut seiner Worte hinnimmt; denn
Schnaps ist für ihn das halbe Leben. Es ist der Stoff, mit dem er den Motor seines Lebens betreibt und den Karren
seiner Existenz um alle Klippen der Erkenntnis und des geordneten Daseins herumzusteuern weiß.
Er, wie alle Männer seines Schlages, bedarf der Civilisation nicht, um das Leben
lebenswert zu finden, ja, auf seine Art ist es für ihn schöner noch und bunter, als es ein Bilderbuch für
Kinder ist. Er blättert darin. Er hat seine eigene Methode, das Leben auszukosten.
Er geht zu den Leuten, er kennt sie und nennt sie beim Vornamen. An den Stammtischen der reichen
Bürger in den Städtchen ist er das Salz. Plötzlich ist er da. Er lächelt nicht, er grüßt und setzt sich auf die
Bank mitten unter sie. ,,Na“, fragen ihn die Leute, „wie jeht et Jirret“.
Oh, er sei letzthin bei seinem Bruder gewesen, der ein Bauerngut habe und ihn dabehalten wolle.
Er habe zwei Nächte lang in einem weichen Bett geschlafen mit Gardinen an den Fenstern und so, ganz schön, aber in
der dritten Nacht habe er an all die schönen Scheunen und Ställe da draußen denken müssen, da habe es ihn nicht
länger mehr halten können, das Straßenheimweh habe ihn gepackt, er sei auf und davon gewesen.
Die Leute schütteln dann den Kopf und sie können nicht verstehen, wie einer ganz einfach aus dem
Bett springt und sich ins Stroh wirft, zu den Kühen, und wie er dort den warmen Atem und den Duft der Tenne spüren
muß, damit es ihn schlafen läßt.
Am Morgen sei er in der Mühle gewesen, bei Mariechen, da habe er dreizehn Teller Erbsensuppe gegessen und wenn er
gewollt hätte, hätte er sich dickesatt essen können.
Das sagt der Jirret. Er hat Appetit wie ein Wolf. Er läßt sich in der Küche die Reste vom
Mittagessen einpacken für den Abend. Er wandert weiter. Immer weiter. Und doch hat er, der scheinbar Heimatlose,
einen seelisch scharf erfaßten Bezirk, in dem allein er sich zuhause fühlt. Vom Rhein bis zum Sauerwald, von den
Bergen des Westerwaldes bis zum Kohlenpott da oben -- das ist das Gehäuse, in dem die Uhr seines Lebens stetig und
mit dem Herzschlag himmelblauester Zufriedenheit abläuft.
In den Bauernstuben des Oberbergischen, ich meine, da um Lindlar, Wipperfürth und Kürten herum,
daß er dort am ehesten aus sich heraus geht.
Manchmal, im Herbst, wenn der Sturm den Bäumen das letzte Laub aus den Haaren kämmt und die
Scheite im Ofen glühen, da die Sehnsucht nach Ofenwinkeln und den Händen der Mutter die Männer überfällt, die
einsam auf den Straßen wandeln, in solchen Augenblicken wird auch er weich und biegsam, tränenschwer und geneigt,
den Kopf auf die Tischplatte zu legen. Vielen hat er dann aus seiner Jugendzeit erzählt. Man weiß, er stammt aus
einem guten Hause, er hat das „Einjährige". Die Leute nennen ihn den „schwarzen Doktor". Es ist, als habe er
irgendwann mal Frauenarzt werden wollen.
Nur steht er da, gehüllt in Lumpen, als einer der Ärmsten im Lande. Sein Körper ist skeletten
und grau geworden, geschwächt von Gicht und zerrissen von uneingestandenen Schmerzen. Auf zwei Stöcken schlurft er
schon dahin. Aber sein Gesicht strahlt vor Zufriedenheit, er hat keine Sorge außer der des Augenblicks, wie er sich
sättige. Und auch die ist schnell behoben. Es liegen so viele, kleine, einfache Dörfchen an seinem Wege, in denen
überall Menschen wohnen, die ihn leiden mögen und seine Narrheit reizend finden.
Er ist so guten Gemütes, daß er kein Gräslein knicken will. So knicken ihn auch die Menschen
nicht. Seine Zufriedenheit, sein Glücklichsein teilt sich ihnen mit und wenn sie am Abend sehen, wie er fromm ins
Stroh sinkt, während sie ihre warmen Betten haben müssen, und am Morgen, wie er heiter in die kalte, verhangene
Landschaft tappt, hat er mehr Gutes für ihren Verstand getan als drei Erbauungsbücher, die sie sowieso nicht
lesen.
Bernhard Schulz Rheinisch Bergische Zeitung, Bergisch Gladbach 1932
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