Es war das Wort für Brot

L I T E R A T U R

18. Dezember 2024


"Ich habe Glück gehabt, dass ich mit dem halben Tode davongekommen bin", schrieb Schulz (2. von links) über seine traumatischen Erfahrungen im Russland-Feldzug der Deutschen Wehrmacht. Das Foto entstand 1942 in der hart umkämpften sowjetischen Stadt Suchinitschi: zuerst von der Wehrmacht erobert, später wieder von der Roten Armee befreit.

 von  Osnabrücker Rundschau

Winterliche Kurzgeschichte erinnert an einen wichtigen Osnabrücker Literaten

Im Jahre 1960  verfasste der unübertroffene Meister der Osnabrücker Kurzgeschichten, Bernhard Schulz (1913-2003), die unten aufgeführte Erzählung. Kurz, aber sehr prägnant wird darin angedeutet, was Soldatentum bedeutet  – und welche  persönlichen Erlebnisse dahinter stehen können. Ganz nebenbei  entdeckt  man viele Bezüge  zum tragischen  Krieg, der derzeit im Osten Europas tobt.
Die OR hatte in ihrer Anfangszeit bereits eine regelmäßige Serie mit Schulz-Werken präsentiert. Schulz selbst wurde auch bereits umfassend mit seiner eindrucksvollen Vita, in der er sogar kurzzeitig Redakteur bei der ersten OR 1946  gewesen ist, beleuchtet.
Lassen wir den Meister der Kurzgeschichten nun aber – unbedingt – persönlich  zu Wort kommen.

Die Kleine, mit der ich ausging, hieß Morgen, Anny Morgen, Anny mit Ypsilon. Aber sie war nicht die Tochter des  amerikanischen Millionärs. Wir waren  damals versessen darauf zu heiraten, nur um eine Adresse zu haben für den Urlaub oder um Briefe zu bekommen. Ein Soldat, der keine Post emp   ng, war einsam.

Es war Krieg, aber noch nicht richtig Krieg, sondern Krieg mit Wacheschieben, Sockenstopfen, Gewehrreinigen, Appell in Kragenbinden, Unterricht über Verhalten bei Bauchschuss, Belehrung  über Spionageabwehr, Diebstahl von Kartoffeln auf Bauernhöfen und Liebschaften mit Verkäuferinnen in Fleischerläden. Abends gingen wir mit den Mädchen in die Tanzlokale, in denen es kein richtiges Bier und keinen richtigen  Kaffee gab. Es war gut, dass die Mädchen mitgehen wollten, obwohl sie nichts anzuziehen hatten.
Anny habe  nie anders als in einem  Kleid aus  schwarzem Samt  gesehen, das  am Hals mit einem Kragen aus  weißer Spitze abschloss. Immer kam sie zum Tanzen in diesem Kleid, das  sie älter machte als sie in Wirklichkeit war. Siebzehn? Achtzehn? Vielleicht. Sie sah  in diesem Kleid feierlich aus, so wie jemand feierlich aussieht, der mehr weiß als andere.

Wir hatten Urlaub nur bis zwölf Uhr, und um elf mussten wir das  Lokal verlassen, um die Mädchen nach  Hause zu bringen  und rechtzeitig im Quartier zu sein. Hatten wir uns amüsiert? Oh, wir hatten getanzt und Dünnbier getrunken.

Wir wussten nichts Lustiges. Uns   el nicht einmal ein Witz ein. Jeder Abend, jeder Tanz, jeder Kuss konnte  der letzte  sein in unserem jungen Leben.
Einmal sagte Anny, und sie sagte es ohne  Zusammenhang: „Woina heißt Krieg. Willst du wissen, was
Brot heißt und Ei und Milch?“
„Was Ist das  für eine Sprache,“ fragte  Ich.
„Russisch.“

„Aber du bist doch  Verkäuferin  im Krefelder Seidenhaus“, wandte ich ein „wozu brauchst du da
Russisch?“
„Ich weiß, warum“, sagte sie.

Niemand an unserem Tisch lachte. Aber es glitt uns eiskalt  über den Rücken. Dieses Mädchen lernte Russisch. Diese Anny mit Ypsilon. Diese Verkäuferin  mit ihren Krawatten. Während  wir unsere Stiefel wienerten und Gewehrschlösser ölten und von Kartoffeln lebten, lernte Anny russische Vokabeln auswendig. Woina, der Krieg.

Sie ging zweimal  in der Woche zum Unterricht, nach  Geschäftsschluss, nach  dem Krefelder Seidenhaus, nach  dem Handel mit Krawatten und Taschentüchern und sie erfuhr, was Ei und Haus  und Kind und Brot heißt.
Manchmal legte sie ihr Übungsheft auf den Tisch, auf dem das  Dünnbier stand, das Heft mit den kyrillischen Buchstaben und mit dem Satz: Die Russen sind unsere Freunde.

Als der Tag kam, an dem es losging  im Westen,  sagte Anny: „Hast du je daran gedacht, mich zu heiraten? Jetzt ist es zu spät. Ich werde  dir schreiben. Hast  du dir ein paar  Worte eingeprägt? Weißt du noch, was Brot heißt?  Chleba..
„Es geht nach  Frankreich“, sagte ich.

Anny schüttelte den Kopf: „Ich habe  dir gesagt, wo es hingeht. Dort sagen sie Chleba. Es heißt Brot. Vergiss  es nicht.“

Ich habe  Anny Morgen nicht wiedergesehen und es kam auch  niemals ein Brief an. Aber in der Gefangenschaft in Russland habe  ich an sie gedacht, und ich habe  kein Wort so oft gehört wie dies: Chleba.
Es war das  Wort für Brot.

 OR-Fritz-Wolf_Wem_gibt_es_Frieden

Im Rahmen ihrer gemeinsamen redaktionellen Tätigkeit arbeitete Schulz  immer  mit dem  legendären Osnabrücker Zeichner Fritz Wolf 1918-
2001)  zusammen. Dieses Werk von Wolf schmückt den Jahreskalender der Fritz-Wolf-Gesellschaft 2025.  Aktueller könnte das Motiv nicht sein.