Bei Apfelwein und Tafelspitz
In Frankfurt schwebt über allem ein Hauch vom Geist Goethes
Frankfurt, die Stadt der Apfelweinkneipen, der Bankgiganten und
der unsterblichen Werke des Johann Wolfgang Goethe. Über allen Worten, die hier gesprochen, und über allen
Zeilen, die geschrieben werden, schwebt ein Hauch vom Geist Goethes, dem größten Sohn der Stadt, und es wispert
ein Lüftchen, das aus dem Werk der Brüder Grimm daherkommt. Wilhelm und Jacob Grimm haben hier ihre Märchen
gesammelt, im Spessart, in der Rhön, im Odenwald, an der Bergstraße, allüberall in den Tälern und auf den Höhen,
in den ausgeräumten Kemenaten der Burgen, in den dumpfen Stuben der Häusler, in den Forsthäusern im Wald und auf
den Marktplätzen der schiefrigen taubenüberflogenen Fachwerkstädtchen. Dornröschen lässt grüßen, Schneewittchen
ist schöner denn je, Hans im Glück schwenkt seinen Hut, Frau Holle schüttelt die Betten, und hie und da geht
eine Liesel hinter den Gänsen her. Von den Hessen weiß man, dass sie
gern und lustvoll feiern und keine Gelegenheit auslassen, Blasmusik zu machen. Sie veranstalten Straßenfeste und
Weinwochen. Zur Tradition rechnen Schützenfest und Winzerfest, das Stiftungsfest der Freiwilligen Feuerwehr und
der Wettstreit der Männergesangvereine und Gemischten Chöre. Und immer werden Zelte aufgeschlagen, in denen
Riesling trocken und Zwiebelkuchen angeboten wird. "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein", heißt es bei
Goethe. Regiert wird in Wiesbaden. Wiesbaden ist die Haupt=> stadt
des Bundeslandes Hessen. In Wiesbaden geht es eher kühl und vornehm zu. Im nahen Frankfurt dröhnt und dampft
einem das Leben um die Ohren. Gebummelt wird auf der Zeil, rings um die Brunnenschale vor der Alten Oper, auf
dem Platz vor dem Römer und bis in den Nacht hinein in Sachsenhausen. Hier in den Kneipen und Kellern, in den
Biergärten und auf dem Pflaster der Gasse verbrüdert man sich beim Äbbelwoi, bei Tafelspitz mit Grie Soß à la
Goethe) und bei Handkäs mit Musik. Hessen reimt auf essen, und wo es Preiswertes zu essen und zu trinken gibt,
da lässt es sich trefflich babbele über den Lauf der Welt. "Man lebt nur einmal in der Welt", sagt
Goethe. Der Lauf der Welt, das sind Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, nehmt alles nur in allem. Vergangenheit ist der Dom in Frankfurt, in dem Kaiser gekrönt wurden.
Gegenwart ist der Rhein-Main-Flughafen, das Eingangstor für Millionen Gäste aus aller Welt. Und die Zukunft
verbirgt sich in den gigantischen Türmen aus Glas und Stahl, die sich in den schon fast südlichen Himmel recken.
In den Wolkenkratzern basteln "am Webstuhl der sausenden Zeit" (Goethe) die Jungs, die Deutschlands Finanz-und
Wirtschaftszentrum beherrschen. Wer Hessen sagt, der sagt auch
Naturpark. Hessen ist das Land mit den meisten geschützten Waldlandschaften. Eigenart und Schönheit dieser
Gebiete sollen der Bevölkerung erschlossen und erhalten werden. Tier- und Pflanzenwelt stellen einen
unersetzbaren Wert dar. Es handelt sich um neun Regionen: Bergstraße-Odenwald, Diemelsee, Hessischer Spessart,
Habichtswald, Hochtaunus, Meißner—Kaufunger Wald, Hessische Rhön, Hoher Vogelsberg und
Rhein-Taunus. Der Wettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden" hat
Erfolg gehabt. Aus halbverfallenen Burgen und Scheunen entstanden Gaststätten. In den Dörfern wurde Fachwerk
erneuert, den Kirchen wurden wieder Türme aufgesetzt, und die Kratzer, die der Krieg hinterlassen hat, sind
verspachtelt, übertüncht, beseitigt. Die Misthaufen vor den Türen kleiner landwirtschaftlicher Betriebe, ein
Ärgernis vergangener Zeiten, sind verschwunden. Über allem leuchtet die Sonne ernsthafter Bemühungen um
Schönheit und Gastfreundschaft. In Wassermühlen, in denen längst kein
Korn mehr gemahlen wird, hausen in trauter Runde Maler und Dichter. Die Kunst kommt keck zu Wort. Töpferei und
Schmieden handwerk machen Profit. "Es muss auch Käuze geben" liest man bei Goethe. Liebhaber kaufen
Handgewebtes, von Hand gezogene Bienenwachskerzen und schneeige Vliese von Schafen, die wieder die grünen Buckel
der Rhön begrasen. Bis in diese Einsamkeit reichen nicht die Schatten der Bankgiganten vom rechten Mainufer. In
Schenken, die sich in Ruinen hochoben über rotdachverschachelten fachwerkzerknitterten Städtchen eingenistet
haben, mundet der Riesling besonders gut. Dankbar gedenken wir der Mönche, die den Wein edelten und den guten
Tropfen Namen nach ihrem Geschmack gaben: Hattenheimer Engelsberg, Niederwallufer Gottesacker, Oestricher
Klostergarten, Hochheimer Domdechanay, Lorcher Pfaffenwies, Rüdesheimer Klosterkiesel. Fürstlich isst und trinkt man in den Salons und Orangerien von Schlössern, deren adlige
Besitzer sich in preiswertere Quartiere zurückgezogen haben. In Burgruinen, efeubegrünt und umhuscht von
Fledermäusen, kommt es bei Kerzenschein in Windlichtern zu Gesprächen über die römischen Legionäre am Limes, die
an ihren Gürteln Rotwein in den Hodensäcken von Schafsböcken mit in den Kampf schleppten. Es kommt zu
Erörterungen über den Dreißigjährigen Krieg, den der Herr von Grimmelshausen, auch ein Hesse mit Verstand und
Witz, so grimmig beschrieben hat. Erinnerung wird wach an Bauernkriege, die Burgen, Schlösser und Klöster in
Schutt und Asche legten. Beim Geschluchze von Nachtigallen im Gebüsch und Oestricher Lenchen im Glas beschwören
Worte Geist und Ungeist von Zeiten, denen niemand nachtrauert. Umso
inniger genießt man den Rest, der geblieben ist. Man schaut in diesen blauen, mit Wölkchen betupften Himmel, der
an südliche Zonen erinnert. Schon längst liebt man die blauschwarzen bewaldeten Höhen, die Weingärten an den
Sonnenhängen, die bächleindurchrieselten Täler mit den Wassermühlen, Postkutschengasthöfen und Kapellen. Der hl.
Sebastian steht da mit pfeildurchbohrter Brust, der für den Bestand der Brücken zuständige hl. Nepomuk und die
hl. Barbara, die auf dem Schützenfest beim Abziehen der Böller hilft. In den Kapellen prunken Blumen auf dem
Altar, von Kindern rührend hilflos in Marmeladengläser gestopft. Burgen, halb wieder aufgebaut, führen den Besuchern saalgroße Küchen vor, in denen täglich
sieben Hirsche zerlegt, zwölf Wildschweine aufgebrochen, vier Zentner Butter verbraucht und an die tausend Eier
aufgeschlagen wurden. Ungezählte Gänse, Enten, Hühner, Fasanen, Forellen, Karpfen und Hasen gingen durch den
Magen des Fürsten und seiner Gäste, und am Tisch saß immer auch eine geistliche Exzellenz: Herr, wir danken Dir für Deine Gaben. Vorgeführt werden unterirdisch aber auch
die Ketten, Daumenschrauben, Streckbetten und ärgere Folterwerkzeuge, mit denen die Bauern abgabewillig gemacht
wurden. Hexen wurden in Brunnenschächte hinabgelassen, um zu bekennen und zu sterben. "Dies ist die Art, mit
Hexen umzugehen", steht im Faust. Die herrliche Sicht, die den Besucher
vom Turm herab auf das Land erwartet, auf dieses hessische Bundesland, die Sicht auf goldgelbe Weizenfelder und
grasgrüne Kuhweiden, auf eichhorndurchkeckerte Laubwälder und rotbeziegelte Dörfer, auf gotische Kirchtürme,
vergrützte Fischteiche und türmchenbewehrte Rathäuser, auf mehlige weiße Feldwege und silbern glitzernde
Bachläufe, sie versöhnen mit den Gruseleffekten landesfürstlicher Zwingburgen. Da gedenkt man nun mit Goethe, der überall hineingeschaut und uns Heutigen auf
Abreißkalendern seine Sprüche hinterlassen hat, des braven Götz von Berlichingen. Der hat über das Verhältnis
der Kleinen zu den Großen ein befreiendes Wort gefunden, das sich allerdings der Drucklegung
widersetzt.
|