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Titelbild Der Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke oder Hinwendung zur Geborgenheit

Einleitung


Das Erste Vorwort von Bernhard Schulz (2002)

Das Ende kommt nicht mit Trompetenschall und Trommelwirbel. Der Krieg ist aus. Einfach so, als sei ein Zug entgleist mit Toten und Verletzten.
Keine Bomben mehr. Keine Nächte im Luftschutzkeller. Keine Festnahmen wegen Defätismus. Keine Sondermeldungen. Keine zuhauf unterschriebenen Briefe vom Kompaniechef: Gefallen für Führer und Vaterland, Ihr Sohn ist ein Held.
Zum Teufel mit den Strategen, die das Wort Napoleon nur als Marke für Cognac kennen und nicht als Denkmal für den blamabelsten Feldzug aller Zeiten. Die Berichte über die Flucht der napoleonischen Armeen füllen Archive groß wie Fußballfelder. In Russland siegen nicht die Kanonen, in Russland siegen die Läuse.
Der Krieg ist aus. Welch eine Veränderung. Welch eine Auferstehung. Welch eine Hoffnung. Wir, die am Leben geblieben sind, entdecken plötzlich die Natur. Wir bewundern ihre Geheimnisse. Wir ertasten ihre Hinweise auf den Ursprung. Wir erforschen die Umwelt. Wir kümmern uns um die kleinen Dinge. Die großen Dinge waren uns zu groß.
Der Schmetterling ist ein kleines Ding, das Schneeglöckchen, die Taubenfeder und doch erwecken sie im Herzen den Anhauch innerer Seligkeit. Die Taubenfeder ist ein Nichts und doch ein Symbol für den Frieden.
Dem Heimchen unter dem Fußboden einer Krankenstube dröhnt keine Fanfare. Den Löwenzahn am Straßenrand zermalmt nicht die Kesselpauke. Den Fliederstrauch im Park entwurzelt nicht die Zehnzentnerbombe. Die Seejungfer, die sich vom See her in die Stadt verirrt hat, weckt unsere Neugier. Das Insekt bedeutet uns mehr als vordem die Meldung über die Verleihung von Eichenlaub an den Träger eines Ritterkreuzes.
Jeder versucht auf seine Art, den Krieg zu vergessen und zur Geborgenheit zurückzukehren. Wir lauschen den Worten der Tante, die das Alpenglühen liebt. Ein Mann dankt dem Regen, der an die Fenster des Büros prasselt, in dem er seiner stupiden Tätigkeit nachgeht. Das ältere Fräulein Kramer fühlt sich nur wohl hinter der Schreibmaschine. Ein Jäger setzt seinen Regenschirm ein als Waffe gegen den Verdruss.
Wir sind dem Untergang entkommen. Eine Welle von Dankbarkeit und Entschlossenheit treibt uns voran. Es ist fast wie Glück. Wir räumen die Trümmer auf. Wir schaufeln die Straßen frei. Wir setzen den Ruinen Fenster und Türen ein. Wir flicken das Dach mit Pappe. Wir bürsten den Brandgeruch aus den Kleidern. Wir helfen einander. In jeder Stube haust ein Paar mit Kind, Katze und Vogelbauer. Die neuen Wörter heißen Wohngemeinschaft, Brotmarke, Kohlenklau. Das Wort Kostennutzungsrechnung haben wir noch nicht gespeichert. Tarifkonflikt, Wachstumsprognose, Preiskampf per Mausklick – was ist das? Wir verzichten auf Beifall, Eichenlaub und Schmiergeld.
Wir basteln Kochherde und Betten. Wir leimen Tische und Stühle zusammen. Im Winter kuscheln wir in Decken, die wir uns gestohlen haben und die nach Kaserne riechen. Im Radio werden die Nachrichten ohne Marschmusik angesagt.
Unsere Sehnsucht nach Geborgenheit stillt das Häuschen im Schrebergarten. Wir bringen unseren Kindern Erdbeeren, Tomaten und Radieschen mit.

 

 


 

„Vier Jahreszeiten“  Fritz Wolf

„Die Geschichten liegen auf der Straße. Man muss sie nur aufheben.“ Bernhard Schulz

 Alle hier gesammelten Geschichten von Bernhard Schulz (1913-2003) wurden in Tageszeitungen, Zeitschriften, Kalendern, Jahrbüchern, dem Lesebuch der Strom und in Buchausgaben mit Kurzgeschichten veröffentlicht. Die Jahreszahl hinter dem Titel bekundet das Jahr, in dem die Zeilen geschrieben und gedruckt wurden.

 

Die Zeichnungen auf dem Einband schuf Fritz Wolf, sie stammen aus dem Jahr 1951, alle anderen Zeichnungen ebenso vom frühen Fritz Wolf (1918-2001) und vom späten Gerhard Sperling (1908-1975).

Rezensionen

«Mein vom Militarismus zertretenes Herz .. 

In den guten alten Zeiten, als die Menschen weltweit noch lasen, schrieb Bernhard Schulz,  Feuilletonredakteur der NT, Neuen Tagespost und Romanautor, täglich eine Kurzgeschichte für sein Zeitungspublikum. Im  kulturell ausgehungerten Nachkriegsdeutschland der 50er und 60er Jahre war der Lesehunger schier unersättlich. Es war die Zeit der Rotationsromane aus dem Rowohlt Verlag: 1,50 DM  für ein solches Taschenbuch war damals eine Menge Geld - manch einer hungerte sich die Lektüre vom Munde ab. Auch ein Zeitungsabo fraß einen Teil der bescheidenen Einkommen. Doch das Internet und die Flatrate Lesemöglichkeiten waren noch nicht erfunden. So entstanden insgesamt weit über tausend Erzählungen und Kurzgeschichten aus der Feder des Osnabrücker Autors, den ein Rezensent als «dörflichen Böll» bezeichnet hat.

Die präzisen Alltagsbeschreibungen und der klare analytische Blick des Journalisten, der die Welt illusionslos schildert, machen diese Arbeiten für heutige Leser brisant und reizvoll. Aktuell sind die Texte auch angesichts der weltweiten Kriege, Flüchtlingstrecks und traumatisierten Menschen. Immer noch, und wir schreiben das Jahr 2019, müssen fast wöchentlich irgendwo in der Bundesrepublik Fünf- oder Zehnzentnerbomben aus dem letzten Weltkrieg entschärft und ganze Wohnviertel evakuiert werden.

«Den Löwenzahn zermalmt nicht die Kesselpauke» ist Titel und Motto der für diesen Band ausgewählten Kabinettstücke des Autors. Die Kesselpauke meint die tägliche musikalische Einleitung der Nachrichten auf dem «Volksempfänger»-Radio zur Nazizeit. Die Schrecken der Nazizeit hatte Schulz als Gefreiter an fast allen Fronten erlebt. Er litt sein Leben lang unter dem Erlebten und kam immer wieder darauf zurück. «Ich war mehr dafür, am Leben zu bleiben, statt unter einem Birkenkreuz zu ruhen», schreibt er in der Skizze von 1965 «Der Freibeuter».

Die 200 Texte aus den Jahren 1945 bis 1965 sind literarische Leckerbissen. Eine vergangene Zeit taucht wieder auf vor uns mit ihren Wohnzimmer-  und Kücheneinrichtungen, Gartenwirtschaften und Vergnügungen. Immer aber steht der Autor auf der Seite der Gebeutelten, der Schwachen und Enttäuschten. Zu den Glanzstücken des Bandes gehören «Der Indianer überm Schreibtisch» (1962) - eigentlich ein kompletter Liebesroman - , «Bleistiftumriss eines Auferstandenen» von 1946 und «Der Tote von Murdasowo» (1950).

Mein Leben wäre ärmer, hätte ich die Erzählungen des Bernhard Schulz nicht gelesen.

Maria Regina Kaiser,  2019


Ich erlebe Bernhard Schulz als einen großartigen Autor. Sprachlich wunderbar - und zu Unrecht vergessen. Gerade heute - in Zeiten weltweiter Kriege - lohnt es sich, ihn zu lesen. Mich beeindruckt, wie er niemals wegschaut, sondern das schlimmste Grauen, das er offenbar selbst erlebt hat, in allen Details intensiv und - ja - sehr sinnlich beschreibt. Zugleich zeigt er Mitgefühl, Wärme, menschliche Anteilnahme und Humor. So entgeht er der Gefahr, gefühlig und kitschig zu werden. Vor allem das scheint mir das Besondere an dem Buch und dem Autor. Ich sehe die Schwierigkeiten der Autoren, die Balance zwischen Erschütterung und gestalterischer Distanz zu finden. Viele Erzähler haben sich im Grauen verloren. Da kommt vor allem Entsetzen, Schmerz, Schock, Trauer - aber keine Wärme mehr. Natürlich verständlich. Aber für den Leser/die Leserin schwer aushaltbar. Bernhard Schulz schreibt unglaublich souverän. Er ist vom Thema ganz und gar ergriffen - und zugleich vollkommen distanziert. So gelingt gute Literatur. Ein ganz besonderer, lesenswerter Autor.

Doris Lerche, Schriftstellerin, Frankfurt,  2017


"Aus dem Massengrab auferstanden". Wer überlebte, war oft lebenslang traumatisiert: Der Soldat Bernhard Schulz wollte den Krieg ebenso wenig wie Millionen anderer Menschen - und hat ihn doch mitgemacht. 1946 schrieb er auf, wie das Erlebte ihn innerlich zerriss.
"Wenn diese verdammten Idioten nur Schluss machen wollten ", schrieb Bernhard Schulz am 2. April 1945 seiner Gerda. Der Journalist und Schriftsteller (1913-2003) hatte den Krieg mehr als satt, er wollte nach Hause, seine Frau und sein Baby im Arm halten, es sollte in diesen Tagen zur Welt kommen. Doch es dauerte noch Monate, bis sich sein Wunsch erfüllte: Schulz geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft, erst im Spätsommer 1945 kehrte er zu seiner Familie zurück.
Am eigenen Leib hatte Schulz das Grauen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, Belgien, Frankreich und Russland erlebt. Krieg und Nazi-Terror verarbeitete der "dörfliche Böll" (Oberbayerisches Volksblatt) in zahlreichen Romanen, Kurzgeschichten und Artikeln.

Der Spiegel 2018, Link zum Artikel


Dieses Buch wurde im April 2018 als Neuerscheinung veröffentlicht.

 

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