Ereignisse vor dem Postschalter 1962
Die Postbehörde hat in unserem Zustellbezirk eine Zweigstelle eingerichtet. Wenn wir jetzt
unsere Raten einzahlen oder ein Telegramm aufgeben wollen, dann können wir das in Zukunft hier erledigen. Es ist
ein kleines, freundliches Büro. Hinter dem Schalter sitzt ein junger Mann, der vor kurzem erst die Prüfung abgelegt
hat und mit Herr Postsekretär angesprochen wird. Er ist voller Eifer und hat Freude daran, Auskunft zu geben.
Selbstverständlich ist in unserer Zweigstelle nichts von jener Erregung zu spüren, die auf dem Hauptpostamt
herrscht, wo die großen Firmen ihre Schließfächer haben und wo in der Minute dreißig Ferngespräche geführt werden.
Es geht fast ein wenig familiär zu; denn die Kunden kennen sich und unterhalten sich miteinander. Man fragt nach
den Geschäften und nach der Gesundheit, lässt die Frau Gemahlin grüßen und lobt die Kinderchen. "Jaja", heißt es
dann, "es geht, es geht."
Heute war ein seriöser Herr anwesend, der folgendes vortrug: "Ich habe vor acht Tagen ein Paket aufgegeben. Können
Sie feststellen, ob mein Sohn, die Sendung erhalten hat?" Der Sohn ist nämlich bei den Soldaten und macht zurzeit
eine Übung mit. "Im Ausland", sagt der seriöse Herr aufgeregt, und nun möchte er Bescheid haben, ob die auf der
Schreibstube wohl so liebenswürdig gewesen sind und das Paket ins Ausland weitergeleitet haben. Der seriöse Herr
sagt eine Liste der Dinge auf, die das Paket enthält: "Topfkuchen, Äpfel, Schokolade, Hustenbonbons, warmes
Unterhemd, Buch mit Gedichten." Die Zusammenstellung erinnert an Krieg und Weihnachten.
Dann ist eine Dame an der Reihe. Der Geldbriefträger hat ihr irrtümlich zehn Mark zu viel ausgezahlt. Seitdem kann
die Dame nicht zur Ruhe kommen, weil der Geldbriefträger vielleicht wie ein Verzweifelter umherrennt und den
fehlenden Betrag sucht. Die Dame wird aufgefordert, den Geldbriefträger zu beschreiben. "Er ist hager", sagt die
Dame, "mittelgroß, hat graues Haar und trägt eine Brille mit Nickelfassung.“ "Das ist Herr Korspeter", sagt
der Schalterbeamte. Auch die Kunden, die umherstehen, sind der Ansicht, dass es sich nur um Herrn Korspeter handeln
kann. Herr Korspeter ist alt geworden in letzter Zeit. Es stellt sich heraus, dass der seriöse Herr den
Geldbriefträger kennt. Er ist sogar bereit, bei Korspeters vorbeizugehen und mitzuteilen, dass die zehn Mark wieder
da sind. Die Dame bedankt sich und erklärt, dass ihr ein Stein vom Herzen gefallen sei.
So geht es also in unserer Postfiliale zu, familiär und kleinstädtisch, und der Schalter ist wie ein Herz, das
klopft.
Heute stehen da zwei junge Italiener und wollen Geld einzahlen. "Due cento Mark", sagen sie, "prego, espresso, per
piacere.. ", „come si chiama?"
Und nun erweist es sich, welch ein vortrefflicher Beamter der junge Mann ist, der soeben zum Postsekretär befördert
wurde. Italienisch gehört nicht zu seinen Pflichten, das ist sicher, aber er weiß sich zu helfen. Er schiebt den
jungen Männern Papier und Bleistift hin und lässt sich die Summe aufschreiben: 200 (in Worten: zweihundert).
Und jetzt die Anschrift: Signora Maria Nell‘ Emilia, Pescasseroli, L'Aquila, Italia. Das geht mit urgente und mama
mia und prego und grazie und per favore und sisisi eine Weile hin und her, und der Herr Postsekretär trägt alle
Angaben in das Überweisungsformular ein, rechnet Mark in Lire um, fügt die Gebühren hinzu, zählt die Scheine ab und
lächelt: "In Ordnung, meine Herren."
Die Italiener wissen jetzt, dass ihre Lire auf dem Wege sind, per Eilpost in ein abseitiges Dorf in den Abruzzen,
wo Signora Maria darauf wartet. Wetten, dass die Signora die Mutter dieser beiden tüchtigen Burschen ist? Ihre arme
Mutter, ihre kranke Mutter, ihre ferne Mutter. Weit, weit in Pescasseroli, wo es außer Oliven und Feigen nichts zu
ernten gibt.
Die Freude der Italiener ist so groß, dass sie sich vor dem Schalter in unserer familiären, kleinstädtischen
Postfiliale in die Arme fallen und sich im Kreise drehen, als wollten sie tanzen. Dann zeigen sie dem Herrn
Postsekretär mit einem Schwall von Worten eine Fotografie ihrer Mutter: Mama mia...
Und wir Deutschen, die wir mit unseren Ratenzahlungen um den Schalter herumstehen, sind ganz gerührt.
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