Das Himmelreich ist nahe 1977
Wir nannten sie die »alte Grete«, und wir hatten uns daran gewöhnt, ihr zu begegnen und so zu
tun, als gäbe es sie gar nicht, denn die alte Grete war nicht ganz richtig im Kopf. Außer dem Vornamen wusste man
nichts über diese Person, die in einem dem Krankenhaus angeschlossenen Gebäude lebte, das vor langer Zeit eine
Volksschule gewesen war und nun als Armenhaus, auch als Herberge für Menschen diente, die vorübergehend obdachlos
geworden waren. Aber die Obdachlosen blieben immer nur ein paar Tage, höchstens eine Woche, indes die alte Grete
hier zuhause war.
Das Armenhaus unterstand den Armen Mägden Christi, so nannten sie sich, und auf ihre stille, unglaublich geduldige
Weise übten sie den Dienst an den Kranken und Armen aus, ohne dass jemals ein Wort des Dankes an die große Glocke
kam.
Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit zogen die Schwestern mit den Waisenkindern, die ebenfalls von ihnen betreut
wurden, ein Märchenspiel auf. Die Aufführung fand in der Kaiserhalle statt, die der Schützenverein für seine
Veranstaltungen erbaut hatte.
Nach der Vorstellung gingen die als Wichtelmännlein verkleideten Waisenkinder mit ihren angeklebten Bärten zwischen
den Stuhlreihen umher und sammelten Geldspenden in sackleinene Beutel, die auch in dem Stück auf der Bühne eine
Rolle gespielt hatten. Es muss da immerhin so viel zusammengekommen sein, dass die Waisenkinder und die alte Grete
und ein paar triefäugige verhutzelte Burschen ein Weihnachtsgeschenk bekommen konnten.
Die alte Grete mochte in jener Zeit, als ich zur Schule ging, an die siebzig Jahre alt sein. Sie war ein
Bestandteil der dörflichen Szenerie, wie es hie und da ja auch einen Baum gab, eine Linde oder eine Rotbuche; sie
standen da und wurden auf eine Weise alt, die nicht wahrzunehmen war.
Die alte Grete war ein dürres, geradezu skelettenes Geschöpf, das den größten Mann im Dorf noch um Haupteslänge
überragte. Aber das Merkwürdige an ihr bestand darin, dass sie im Laufe ihrer siebzig Jahre krumm geworden war. Sie
war einem Fragezeichen vergleichbar, das mit wallendem Rock umherflatterte. Sie ging vornüber geneigt, krummer als
alles andere was krumm war, und sie ging mit einer Art Stechschritt, wie ihn Soldaten beim Vorbeimarsch haben,
wobei sie die Hände auf dem Rücken ineinander verschränkte, als wäre sie bemüht, sich selbst hochzuziehen.
Die alte Grete war, obwohl sie im Kopf nicht ganz richtig war, harmlos. Sie hat niemals Feuer gelegt oder Äpfel
gestohlen oder Kinder geschlagen, die sie anglotzten. Sie ging in Holzpantinen umher und machte mit diesem
militärischen Schritt, den sie sich angewöhnt hatte, die Leute aufmerksam.
»Die alte Grete kommt«, sagten sie, weiter nichts. Die alte Grete, dieses tumbe Weib ohne eine Spur von Verstand im
Kopf, gehörte so selbstverständlich zu ihnen, dass sie nicht einmal Mitleid oder Unwillen erweckte.
Im Gegenteil, sie brachte es fertig, die Leute zum Nachdenken anzuregen. Sie hatte aus Jahren, die in völliger
Dunkelheit hinter ihr lagen und in denen sie im Kopf noch nicht so durcheinander war wie heute, einen einzigen Satz
festgehalten, ein Bibelwort, und dieses Wort wiederholte sie immerzu, hundertmal am Tag. Das Wort hieß: »Das
Himmelreich ist nahe«.
Auch das muss gesagt sein, dass die alte Grete böse Augen hatte in einem knöchernen Gesicht, vor dem die Kinder
sich fürchteten, und in dieses Gesicht hinein strähnte ungepflegtes graues Haar. Sie sah wie eine Hexe aus dem
Märchenbuch aus, eine Alte, die Kinder in den Backofen steckt und Jungfrauen in Kröten verwandelt und dergleichen
mehr.
Niemals hatte jemand die Alte lachen sehen. Sie wusste nicht, was heiter war, fröhlich, übermütig, aber sie hatte
es vor langer Zeit gewusst, und jetzt hoffte sie mit einem letzten Quäntchen von Erinnerung, dass ihr Leben einmal
doch wieder heiter sein würde.
Wenn sie die Stube im Armenhaus verließ und auf die Straße ging, auf der damals noch keine Autos fuhren, blieb sie
stehen, sobald sie einen Menschen kommen sah, wer dieser Mensch auch sein mochte. Sie wandte sich ihm zu und schrie
wie ein Wachtmeister: »Das Himmelreich ist nahe!« Dann nahm sie ihren Stechschritt wieder auf und murmelte »ja-
jaja« vor sich hin, als wolle sie etwas Versöhnliches hinzufügen.
Aber ja doch, die Leute glaubten alle miteinander an das Himmelreich, aber sie wussten nicht, ob es wirklich so
nahe war, wie die alte Grete sagte, oder ob sie sich mit dem Beten Zeit lassen konnten. Jedenfalls antworteten sie
nicht, und es wurde auch keine Antwort erwartet.
Auf ihrem Weg durchs Dorf schaute die alte Grete jedes Mal auch in die Hufschmiede hinein, in der ein Feuer glühte
und die Gäule in ihren Boxen polterten, und den Bauern schrie sie entgegen: »Das Himmelreich ist nahe!«
Der Schmied bot ihr ein Hufeisen an, das ja für Glück steht. »Stecks ein!« sagte er, und die Alte ließ das Hufeisen
in einer Tasche ihres wallenden grauen Rocks verschwinden.
Die Hufeisen schenkte sie den triefäugigen Männern, die so alt waren, dass sie nicht einmal mehr Koks schaufeln
konnten, und wenn sie genügend Hufeisen gesammelt hatten, dass es sich lohne, sie dem Schrotthändler zu bringen,
kauften sie sich Krüllschnitt für ihre Tabakspfeifen. Sie waren dreist genug zu behaupten, dass Krüllschnitt ein
Vorgeschmack auf jenes Himmelreich sei, von dem die alte Grete sprach. »Jajaja«, murmelte die Alte und schüttelte
den grauen Kopf. Heute glaube ich, dass sie trotz ihres Schwachsinns das Gefühl gekostet hat, etwas Gutes getan zu
haben, und das hatte sie auch.
Am Tag vor Weihnachten pflegte meine Mutter einen Besuch im Armenhaus zu machen. Sie nahm einen Korb voll
Lebensmittel mit und etwas Wollenes, das sie in der Adventszeit gestrickt hatte. »Unsere Grete«, das sagte eine
Magd Christi, »sitzt schon den ganzen Nachmittag fein angezogen, auf ihrem Bett und wartet auf Sie. «Ich war einige
Male mit dabei, und jedes Mal fuhr die Alte mir mit ihren gichtigen Fingern durchs Haar und schrie meine Mutter an:
»Das ist ein braver Junge, der geht ins Himmelreich ein!«
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