Vor dem Fest

 

Mein Vater kannte  nur  ein einziges Gedicht, das er damals, als er zur Schule ging, auswendig lernen mußte. Es war ein Gedicht, das im Lesebuch für das achte Schuljahr sehr  stimmungsvoll den  Abschnitt "Winter" einleitete. Leider waren  nur die beiden ersten Zeilen in Vaters Gedächtnis haften geblieben, und den Rest hatte er vergessen. Die beiden Zeilen lauteten: "Die  Stürme brausen um das Haus, da erzählt der Vater vom Nikolaus." 

 

Weiter kam er nicht, obwohl ich gerne erfahren hätte, wer der Nikolaus in Wirklichkeit  war und  auf welche Weise es ihm  gelang, in einer einzigen Nacht die Schuhe aller Kinder in unserem Dorf mit Spekulatius und Bonbons zu füllen. Hundertachtundvierzig Schuhe wären vielleicht zu schaffen  gewesen; denn dem heiligen Mann standen ja auch ein  Knecht und ein Esel zur Seite. Aber wie wurde er zum Beispiel in der Kreisstadt  und in der Landeshauptstadt mit seiner Bonbonwirbelei fertig - wer konnte einem das sagen? 

 

Die   Stürme brausen um das Haus, jawohl. Niemand wird mir   glauben, daß es sich damals tatsächlich um Stürme gehandelt hat. Um Stürme, die das Haus wegzutragen drohten. Sie rüttel­ ten am Gebälk. Sie zerrten am Dach und an den Fenster­ läden. Sie krochen durch Ritzen und Schlüssellöcher. Das Haus war in solchen Nächten von  Geräuschen erfüllt, die sehr wohl von schlurfenden Füßen und tappenden Händen herrühren  konnten, und der Esel riß in seiner tumben Art sogar den Schirmständer im Hausflur um. 

 

Heute  noch bilde ich mir ein, daß ich in keiner dieser Nächte  geschlafen  habe. Ich lag da und lauschte und bibberte nach der Süßigkeit, die morgens im Hausschuh lag. Überhaupt  war  die Vorweihnachtszeit viel zu kostbar, um sie zu verschlafen,  wie müde man auch sein mochte. Ich hatte entsetzlich viel zu tun. In meinem  späteren Leben habe ich diesen Grad von Arbeitseifer und  Selbstentäußerung bei keiner Gelegenheit wieder erreicht. 

 

Ich mußte aus dem Nichts Geschenke  schaffen, für die lieben Eltern, für die lieben Geschwister, für die liebe Oma, für den   lieben Opa, für die arme Frau Zengerlein, die allein im Leben stand. Einmal dehnte ich meine Nächstenliebe sogar auf den   Klavierlehrer aus. Aber das lag daran, daß ich ein   Butterbrotbrettchen zu viel hergestellt hatte. Ich stellte nämlich aus dem Holz von Margarinekisten kleine Brettchen her, die für den Frühstückstisch gedacht waren. Ich  war  ein  Meister der Laubsägearbeit. Lampen, Wandschmuck, Bilderrahmen,  Salzstreuer, Bücherstützen, Dosen für Kragenknöpfe, Behälter   für Zündhölzer, Untersätze für Weingläser - dies alles stammte von meiner Hand. Mein Ruf als Erzeuger von Butterbrot-brettchen war groß. Ich arbeitete nach zwei Vorlagen, die eine war eine Weintraube und die andere ein  Mastschweinchen. Der Klavierlehrer bekam das  Mastschweinchen, und  ich bin heute sicher, daß er es sofort in den Ofen gefeuert hat. 

 

Ich  hatte  vier  Schwestern, eins, zwei, drei, vier, und diese  vier Schwestern fingen im September schon an, Weihnachtslieder zu singen und Handarbeiten  anzufertigen.  Stricknadeln   klapperten hinter verschlossenen Türen. Mutter  war verzweifelt, weil ihr keines der Mädchen bei der Küchenarbeit helfen wollte. Aber das Schlimmste war, daß  diese Mädchen sie auch um die Freude bringen wollten. Etwa so: "Mutter, soll ich dir mal sagen, was du Weihnachten von mir bekommst?" 

"Aber Kind", antwortete Mutter, "nimm mir nicht die Freude. Du  bringst mich  ja um die Überraschung." 

"Rate doch mal!" 

"Nein, das tu ich nicht." 

"Nur die ersten sechs Buchstaben, Mutter. Rate mal! Es fängt  an  mit  ..."  Da  hielt Mutter ihr den Mund zu, sie war ernstlich böse jetzt, aber meine  Schwester  wand  sich wie ein Wurm, und sie brachte es fertig, durch Mutters Hand zu zischen: "s' fängt  an mit Sofaki ...". Am Weihnachtsabend war die Überraschung enorm. 

  

Bernhard Schulz, 1967