Das Fenster zum Garten 1974

Das Haus, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, war ein Fachwerkhaus. Das Haus wurde außer von meinen Eltern und ihren sechs Kindern von Schwalben, Mäusen und insbesondere von Ameisen bewohnt. Die Ameisen saßen im Holz der Wände, und sie waren auf keine Weise wegzukriegen. Nicht einmal der Kammerjäger war dazu imstande. „Ich kenne nur ein einziges Mittel, Ameisen loszuwerden“, sagte er, „und das heißt 'abbrennen'. Verstehen Sie, was ich meine?“
Meine Eltern verstanden, sie waren ja nicht dumm, aber sie fürchteten, dass es mit der Feuerversicherung Schwierigkeiten geben würde, wenn es herauskäme, und nur der Feuerversicherung wegen lebten wir weiter mit den Insekten.
Die Ameisen drangen in alles ein, was reizbar war, am liebsten in Marmelade, die meine Mutter in riesigen Mengen selbst einkochte. Als Kind nahm ich es selbstverständlich hin, dass in der Stachelbeermarmelade und im Apfelkraut, von dem wir immer besonders viel besaßen, Ameisen enthalten waren. „Gott hat auch die Ameisen erschaffen“, sagte mein Vater einmal, als es mit dieser Plage am ärgsten war, „er wird schon wissen, warum.“
Schwalben, Mäuse, Ameisen und im Winter in Schornsteinnähe unter dem Dach ein Käuzchen Paar hielten unsere Beziehung zur Natur wach. Die Jahreszeiten in ihrem langsam sich vollziehenden Wechsel von Schnee, Regen, Kälte, Hagel, Sturm, Hitze und Gewitter gaben Anlass zu Gesprächen, die sich endlos ausdehnen konnten; denn vom Wetter hing die Arbeit ab, von der Arbeit der Lohn, vom Lohn die Nahrung und von der Nahrung das Wohlergehen. Der Ablauf dieser natürlichen Angelegenheiten wurde gelegentlich durch ein Gläschen Schnaps und ein bisschen Musik auf der Ziehharmonika gefeiert. So einfach war alles.
Am schönsten war das Leben in diesem Hause in den Wochen um Pfingsten. Mir war eine Dachkammer als „eigenes Zimmer“ zugeteilt, und aus dem Fenster dieser Kammer blickte ich auf einen Obstgarten, unter dessen Bäumen um diese Zeit krass geschnitten wurde. Der Garten gehörte dem alten Hasberg, der eine Kuh im Stall fütterte und der tagsüber in einer Mühle beschäftigt war.
Nach Pfingsten, wenn das Gras hoch unter den Bäumen stand und die Luft süß war vom Duft blühender Jasmin Büsche, fing der alte Hasberg um vier Uhr in der Frühe unter meinem Fenster an, seine Sense zu schärfen. Er zog den Wetzstein, der in einem Kuhhorn an seinem Gürtel hing, an die 30-mal am Stahl der Sense entlang, schschscht, schschscht, schschscht. Es war ein Laut, den man nicht beschreiben kann und den kein Orchester hervorzubringen vermag.

In diesem Geräusch ist heute noch der ganze Sommer meiner Knabenjahre enthalten: der Ruf der Amsel im Birnbaum an der Scheune, das Gurren der Tauben auf dem Dach des Nachbarhauses, das Kikeriki der Hähne dorfauf dorfab, das Grunzen der Schweine vor dem Trog, das Gezirp der Grillen unter den Dielenbrettern, das Gefiep der Schwalbenbrut im Dachgiebel, der Pfiff der Lokomotive in der Ferne, das Geläut einer Eisenbahnschranke, der Schrei einer Kuh auf den Weiden draußen, das Knarren eines Leiterwagens.
Die Nacht war kaum zu Ende, und schon regte sich das Leben im Dorf. Der alte Hasberg trug das Gras, dass er geschnitten hatte und das schwer war vom Tau, in einem Sack nach Hause, ein alter Mann mit krummem Rücken, der von dreizehn Kindern fünf verloren hatte. Er würde die Kuh füttern und melken und die Milch durch ein Sieb in Schalen füllen, und in die Milch würden sie abends schwarzes Brot brocken, er und die Frau und die Kinder, die übrig geblieben waren, und das Brot erhielt er als Lohn für seine Arbeit in der Mühle.
Die Morgensonne, die Junisonne, die Pfingstsonne zauberte goldene Kringel auf gekälkten Wänden meiner Dachkammer, und die windbewegten Zweige eines Holunderstrauches warfen zarte Schatten dazwischen. Ich schaute in den Garten hinab. Es kam mir vor, als hätte ich dies alles schon einmal erlebt, es lag im Blut von Generationen von Dörflern her, und damals war ich noch nicht von jener Angst erfüllt, die mir eingab, dass es bald zu Ende sein würde.