Bleistiftumriss eines Auferstandenen

Und er sprach: „Jüngling, ich sage dir, steh auf.“ Da richtete sich der Tote auf und fing an zu reden. Lukas 7, 11-16

Ich bin, wenn ich das sagen darf, aus dem Massengrab auferstanden. Ich bin krank. Ich bin vermutlich eine Zeitlang zu schlecht ernährt worden. Was an mir gesund war, haben die Läuse gefressen. Das Fleckfieber war nicht das Einzige. Auch das wolhynische Fieber befiel mich. Das tat mir in den Schienbeinen am meisten weh. Dann kam Malaria hinzu, in Schirokowka, glaube ich wohl. Die Leber war geschwollen und die Milz einmal vergrößert. Die Erreger hochzeiteten in meinem Blut. Oh, als ich krank war, lernte ich Blutbilder betrachten und Fieberkurven lesen. Ich unterhielt mich vortrefflich dabei.

Ich sagte eben, die Läuse fraßen an mir. Das ist ein Ausdruck, den ich eigentlich nicht verwenden dürfte. Ich bin längst nicht mehr so vornehm, wie ich früher war. Ich sage heute geradeheraus „fressen“. Die Läuse haben mich aufgefressen, nitschewo. Wissen Sie übrigens, was aus meinen erfrorenen Zehen geworden ist? Die sind im Gemüsegarten hinter der Baracke Sieben des Seuchenlazaretts in Shisdra beerdigt worden. Ich hoffe, dass sie dort einigermaßen selig ruhen.

Sehen Sie, die ganze Sache wäre ohne Bedeutung, wenn ich tot wäre. Aber ich bin nicht tot. Ich bin halb tot. Ich habe Glück gehabt, dass ich mit dem halben Tode davongekommen bin. Wahr ist, dass ich für ein Massengrab in Suchinitschi projektiert war. Nicht als Einzelner projektiert, sondern als Masse. Die Masse liegt zwei Kilometer westlich vom Bahnhof Suchinitschi, da wo die Schlucht ist.

Ich als Einzelner bin der Schlucht entronnen. Ich habe also einen Betrug begangen. Ich habe den Armeeführer um 4,3 Gramm Leichtmetall beschummelt. Das war meine einzige Korruption im Kriege, ich gestehe das ein.

4,3 Gramm – soviel wiegt nämlich die Hälfte einer Erkennungsmarke, dieser Eintrittskarte in „Walhall“. Die Hälfte wollte der Armeeführer haben, damit er meiner Mutter in Osnabrück melden konnte: „Gefallen auf dem Felde der Ehre.“

Das war faustdick gelogen gewesen. In Suchinitschi sind sie nicht gefallen, sondern von sibirischen Scharfschützen mit Gewehrkolben erschlagen worden. Und außerdem nicht auf dem Felde der Ehre, sondern bei 56 Grad Kälte zwischen Lokomotiven und Panjehütten. Wolken von Krähen ließen sich auf ihrem Fleisch nieder wie auf Holz.

Das war vielleicht ein Achtel Tod, den ich damals erlitt. Eine MG-Garbe zwitscherte durch meine Schenkel und versengte die weiße Haut. Das hat mich veranlasst, wegzulaufen. Hinter mir brannte der Bahnhof lichterloh. In Popkowo wollten mir die Partisanen die Ohren abschneiden. Sie benutzten kleine Schälmesserchen dazu. Aber in Popkowo hatte ich einmal einer Madka Schokolade aus einem Frontpäckchen geschenkt für ihre Kinder (ich versuchte, den Krieg wieder gut zu machen, indem ich mein Brot russischen Kindern gab). Die Madka küsste meine erfrorenen Hände und sagte: „Dobre pan“, und die Partisanen ließen mich in den Schnee hinausgehen. Dann schossen sie nach mir wie nach einem Fuchs.

Das war wieder ein Achtel Tod. So kam ein Achtel zum anderen, und bisweilen waren es auch bloß Sechzehntel und Vierundzwanzigstel.

Jetzt nach meiner Entlassung, mitten in der Arbeit, oder sonntags in der Kirche, oder abends auf dem Feuerwehrball, oder wenn gesungen wird, kommen sie an, die Achtel und Sechzehntel Tode, diese Bruchstücke des Krepierens einer Menschenhülle, heulende Granaten und knisternde Grade Frost, Läuse, Mücken, Wanzen, Marschbefehle, Angriffsziele, Feuerpläne, und die Schälmesserchen der Partisanen…

Wer dies liest, hat den Vorteil, dass er meine Auferstehungsrede angewidert aus der Hand legen kann. Es braucht ihn nicht zu interessieren, warum der eine ganz tot und der andere halb tot ist. Der ganz Tote hat alles erledigt. Ich, der ich halb tot bin, bin nicht mehr im Stande, etwas zu erledigen. Ich schreite nicht mehr. Ich taumele. Ich bin immer ernst. Ich stehe da und schaue auf meine Füße, oder auf einen Hausgiebel, und weiß der Himmel, was in mir vorgeht. Ich beteilige mich an nichts mehr. Wer mich mitnimmt auf einen Sängerball, muss sehen, wie er mit mir zurechtkommt. Wahrscheinlich gehe ich weg. Kann sein, dass ich dann auf der Landstraße, an einen Baum gelehnt, stehen bleibe.

Was ich sehe, sind weite öde Flächen Schnee und aufzuckendes Feuer von Geschützen. Was ich fürchte, sind die mahlenden Raupen der Panzer und die schwellenden Bäuche der Panjepferdchen im Morast der Schneeschmelze. Was ich betrachte, sind die kahl geschorenen Köpfe erhängter Mongolen und roter Mull von einem eisverkrusteten Wasserloch. Was ich anstiere, sind, weiße schwebende Pünktchen über dem glitzernden Schnee, die einen Granatwerfer aufbauen und mich mit Feuer überschütten. Was ich begreife, sind die Rohre der Ratschbumm, die sich auf den Fleck zwischen meinen Augen einschießen. Was ich haben will, sind Brot und Schmalz und Tabak und Schnaps und einen Brief von daheim. Was ich besitze, sind faulige Kartoffeln, Losanthintabletten, Patronen und Klopse aus gefrorenem Pferdefleisch. Was ich kenne, sind Leichen, Krähen, Kapusta, Läuse und Läuseeier. Was ich nicht kenne, sind, ausruhen und Schlaf und Vormichhinlächeln …

Ich sagte schon, wenn ich tot wäre, brauchten wir nicht darüber zu reden. Aber ich bin nicht tot. Jedenfalls nicht ganz. Ich lebe. Das Leben besteht für mich aus Bruchteilen, wie auch der Tod für mich nur Bruchwerk ist: Ein Achtel Granatsplitter im Kreuz, ein Achtel erfrorenes Zehenfleisch, ein Achtel vergiftetes Blut, ein Achtel angeknackte Lunge, ein Achtel verseuchte Milz, ein Achtel …

Ich glaube, ich muss in Vierundzwanzigsteln rechnen. Der Tod geht nicht auf. Das ist das Schreckliche an mir.

Bernhard Schulz, Osnabrück 1946 (unveröffentliches Manuscript)