Lebensabend eines Turmwärters

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Man muss an einem dieser Abende hier gestan-den haben. Man muss die 183 Stufen dieser knarrenden Wendeltreppe em-porgestiegen sein, um dort ob endlich schwerat-mend und mit müden Knien an den Rand der Brüstung zu treten und, die Hand am Blick, in die-ses Land hineinzuschauen, das sich in einer schon sommerlichen Schwere der Dunkelheit gibt. Das Dorf ist es nicht zuerst, das uns erregt, diese schmalbrüstigen Häuschen mit ihren roten, eingedrückten Dächern, sondern das Land ringsum, die pastellfarbene Weite von Fichtenwäldern, Äckern und Kuhweiden. So hoch ist der Turm und so sehr über die Wohnungen der Menschen gesetzt, daß man wie aus der Gondel eines Ballons dies alles zu sehen vermeint, die Dörfer, die große Stadt in der Ferne, die Bauernhöfe und die baumbestickten Bänder der Landstraßen.
Wie der Mann sich nennt, der hier oben haust, weiß ich nicht. Ich habe ihn aber immer besucht, wenn mein Weg mich in dieses Dorf führte. Wir grüßen uns nicht sonderlich und wir schenken uns auch nichts zum Andenken daran, daß wir hier oben dieses himmlische Glück einer Ballonfahrt genießen dürfen. Ich presse nur die Hand auf mein Herz, das wild klopft, und er, der Alte, der Turmwart, Glöckner und Warnrufer, lächelt weise und steht auf, um das eiserne Türchen zu öffnen, das auf den Balkon hinausführt. Da stehen wir nun. Taumel springt mich an, der Turm schwankt, ruckt an, erhebt sich zu seiner Fahrt. Die Erde rollt, der Wald kommt auf mich zu, die Wolken, die grüne Matte der Wiesen und Äcker. Die Sonne steht tief im Westen. Der Himmel ist dort mit einer leuchtend roten Farbe Übergossen. Dort ist die Nacht, die Finsternis, das Feuer. Dort ist dieser Mann daheim dort kennt er sieb aus; seit Jahr und Tag ist er in ihr unterwegs, von einem Fensterchen dieses Turmes zum andern, das Glockenseil in Händen, immer
bereit, seinen erzenen Warnruf über die erschreckt sich duckenden Häuser
hinläuten zu lassen.
Wie oft es geschehen, darüber führt er Buch, und er weiß jederzeit die Stunde anzugeben, in der in diesem und in jenem Gehöft der rote Hahn aus der Dunkelheit sprang und fackelwild dahintanzte, oder als beispielsweise der Krieg ausbrach. Er läutet den Bauern, den wortkargen Bewohnern dieses Landes, die Hochzeit ein und den Tod, Kind-taufe und Begräbnis, Er läutet ihnen den Morgen ein und den Abend, und am Sonnabend, wenn in den Höfen, in die er von oben blicken kann, die Burschen sich unter dem Brunnenstrahl waschen, läutet er beide Glocken, die dicke brummige, und das silbrige Totenglöcklein, das es immer am eiligsten hat. Dann kommt auch er zur Ruhe und lehnt sich ein wenig in den Ohrenstuhl, der vor dem Türchen steht, das auf den Bailkon hinausführt, und lauscht dem Lärm, der aus dem Dorf zu ihm heraufbrandet, den Kinderstimmen und dem Gebrüll heimtreibender Kühe. Die schwarzen Dohlen sitzen auf den Fenstersimsen und hören zu. Schwalben zwitschern und segeln wie blitzende Scheren durch die blausilberne, vor Wärme knisternder Luft.
Dann hört er bisweilen von unten einen Ruf. „Heijo" ruft es da wie aus weiter Ferne, „heijo . . ." Er steht ächzend auf, denn das Sitzen hat ihm wohlgetan, und er wäre beinahe eingeschlafen. Er geht auf den Balkon, der im übrigen gerade soviel Platz bietet, daß zwei Menschen nebeneinander stehen können, und läßt über eine Gleitrolle einen Korb hinabschweben. Es dauert eine Weile, bis der Korb sich hinabgeschaukelt hat. Die knöchernen Gelenke des Alten geben das Seil Griff um Griff frei.
Dort unten füllt eine Frau den Korb mit Brot und allem, was der Alte für eine Woche Aufenthalt auf seinem Turm benötigt, mit Trinkwasser, mit Brennholz für den kleinen eisernen Ofen und sogar mit Blumen, die sorgsam in Vasen gestellt werden. Jetzt ist der Sonntag da. Jetzt kann auch der Alte ein Weilchen verschnaufen und sich des Lebens unter ihm erinnern.
Er drückt sein welkes Gesicht, seinen zahnlosen Mund und die geschlossenen Augen in den Feldblumenstrauß und erwehrt sich nicht des Lächelns, das ihn von innen her ankommt.
So verrinnt das Leben dieses Mannes. Die Menschen hausen unter ihm, sie heiraten und sterben, und sonntags bringen sie ihre Kinder mit zur Taufe. Der Alte ist immer in ihrer Mitte, er lebt mit ihnen allen, und wenn sie ihre Feste feiern und er dazu läuten muß, legen sie ihm ihre Gaben in den Korb. Und dennoch ist ihm fast das Sprechen vergangen, sein Mund ist wächsern zugekniffen und er weiß beinahe nicht mehr, wie das ist: sprechen, Worte machen, antworten und sich dartun. Er lächelt vor sich hin, das Glockenseil in Händen, ein weiser Mann: So ist das Leben, jajaja . . .
Als ich heuer auf seinen Turm stieg, traf ich zwei fremde Männer dort. Sie waren gerade dabei, den Alten in eine Decke zu hüllen und auf ein Brett zu schnüren. Dann ließen sie ihn über die Gleitrolle nach unten schweben. Sie machten dabei nicht viel Wesens, sie vollbrachten dies Letzte so, wie der Alte es auch getan hätte: Griff um Griff ließen sie den Toten an seinem Strick zur Erde zurückkehren.