Leseprobe

Pfeffernüsse soviel ihr wollt

Wenn die ersten Schneeflocken fallen, sie dürfen ge­trost wässrig sein und sich in Nässe auflösen, erin­nere ich mich mit Vergnügen an ein Ereignis, das sich in meinem Elternhaus abgespielt hat und das mit Weihnachten zu tun hat. Es handelt sich dabei um genau einhundert Pfund Pfeffernüsse. Ich muß vorausschicken, daß mein Vater jener Typ von Versorger war, der einfach nicht genügend Widerstandskraft besaß, Waren, die ihm durch Offer­ten angeboten wurden, nicht zu bestellen. Dieser Typ fällt auf jedes Angebot herein, und das Verlokkende an den Angeboten war der Umstand, daß die Ware erst vier Wochen nach Erhalt bezahlt zu wer­den brauchte. Wer einmal angefangen hat, mit sol­chen Firmen zu arbeiten, wird bis ans Ende seines Lebens mit bunten und sorgfältig aufgesetzten Drucksachen versorgt.

Wir wohnten auf dem Lande und waren für die Post gerade noch erreichbar. Es gab im Dorf kein gut as­sortiertes Kaufhaus, das es mit den bunten Drucksa­chen hätte aufnehmen können. Hier lag der Grund, warum diese Offerten auf schwache Naturen einen starken Reiz auszuüben vermochten, und mein Va­ter war ein schwacher Vater.

Mutter war strikt dagegen, Schulden zu machen, und Vater schickte seine Liste in aller Heimlichkeit ab. Das Bestellen wurde ihm ja so leicht gemacht; er brauchte dem Brief nicht einmal eine Marke aufzu­kleben, das Porto bezahlte der Empfänger. Klein­gedruckt versicherte die Firma, daß sie bereit sei, die angeforderte Ware nicht nur ein einziges Mal, son­dern sogar monatlich und auf besonderen Wunsch wöchentlich zu liefern, und da mußte man höllisch auf Draht sein, um nicht in des Teufels Küche zu ge­raten, und genau dort landete mein Vater. Ohne einen Schritt mehr als den zum Briefkasten getan zu haben, wurden ihm zu seiner eigenen Ver­blüffung wöchentlich acht Pfund Margarine, sechs Pfund Tilsiter Käse, ein Eimerchen Erdbeermarmelade, ein Eimerchen Heidehonig, ein Kanister Son­nenblumenöl, drei Kisten Zigarren, ein Sortiment Fischkonserven, zwei Kilo Kaffee, unkontrollier­bare Mengen an Tee, Schokolade, Gebäck, Haar­wasser, Zahnpasta, Malzbonbons, Badesalz, Hefe und Saucenpulver geliefert.

Am meisten wunderten wir uns über das Saucen­pulver, für das niemand in der Familie Verwendung hatte. »Ich dachte, du könntest es gebrauchen«, sagte Vater, und meine Mutter erwiderte, er solle gefälligst das Denken sein lassen, es käme nichts als Saucenpulver dabei heraus.

Für meine Mutter war es hinterher schwierig und zeitraubend, die Lieferanten zu überzeugen, daß es jetzt genug sei und daß sie mit Zahnpasta für die kommenden hundert Jahre eingedeckt sei. Sie setzte sich hin und schrieb regelrechte Bettelbriefe, in de­nen sie ihre Not offenbarte und darum bat, in Zu­kunft mit Tilsiter Käse verschont zu werden.

 

Dann ereignete sich die Geschichte mit den Pfeffer­nüssen. Eine Nürnberger Lebkuchenfabrik hatte statt der bestellten 5 Kilo Pfeffernüsse sage und schreibe 50 Kilo auf den Weg gebracht. Sie hatten an Vaters 5 eine Null gehängt, sie hatten ein bißchen multipliziert, sie hatten es ganz einfach mal ver­sucht, hundert Pfund von ihrem wohlduftenden Backerzeugnis an diesen Kunden in der Provinz los­zuwerden. Weiß der Himmel, was sich die Lebku­chenbäcker in Nürnberg dabei gedacht hatten.

Heute weiß ich, und mein Vater hat es ebenfalls er­fahren, daß einhundert Pfund Pfeffernüsse unter dem Weihnachtsbaum imstande sind, eine achtköp­fige Familie auszurotten. Einhundert Pfund Pfeffer­nüsse bedeuten nicht Frieden auf Erden und unter gar keinen Umständen den Menschen ein Wohlge­fallen.

O Tellergraus, o Magenschreck, was da süß und pfeffrig über uns kam, war das geradezu blödsin­nige Gegenteil von Mangel. Es war eine Über­schwemmung, eine Feuersbrunst, ein Vulkanaus­bruch in weihnachtlicher Backware. Es war die rauhe Menge, von der immer schon die Rede ging. Vater mochte es den Bäckern in Nürnberg nicht an­tun, ihnen die neunzig Pfund Pfeffernüsse zurück­zuschicken, die er nicht bestellt hatte. Er war sicher, daß die Nürnberger Lebkuchenindustrie in solchen Dingen keinen Spaß verstehen würde. Muter rüttelte an ihm und sagte: »Heraus mit der Wahrheit! Du hast fünfzig Kilo bestellt, ich kenne dich doch!«.

Vater stand neben den beiden riesigen Kartons mit Pfeffernüssen. »Kinder, wißt ihr was«, sagte er, »ihr dürft davon essen, soviel ihr wollt!« Er machte ei­nen Karton auf und schob sich eines von diesen wei­ßen Dingern in den Mund, um uns auf den Ge­schmack zu bringen. »Das ist Ware«, sagte er anerkennend. 

In dieser Minute begann für seine Familie ein viele Monate währendes Leben voller Qual und Pfeffer­nüsse. Zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Nachmittagskaffee und zum Abendbrot gab es Pfef­fernüsse. Pfeffernüsse in den Pudding und in die Milchsuppe. Pfeffernüsse in den Schulranzen und in den Wanderrucksack. Pfeffernüsse ins grüne Nest des Osterhasen und anstelle von Taschengeld für den Jahrmarkt.

Meine Mutter machte Pfeffernüsse mit Himbeersaft und mit Quark an, und einmal versuchte sie es mit Maggi. Sie rieb Pfeffernüsse auf der Reibe und trieb Pfeffernüsse durch den Fleischwolf. Kein Mensch auf Erden außer meiner Mutter weiß, daß ein Zent­ner Pfeffernüsse in der Küche schlimmer ist als überhaupt nichts zu essen.

Der Himmel möge ihr die Sünde verzeihen, aber sie hat den Rest zu Hühnerfutter verkocht. Sie tat es, und die Eier schmeckten eine Zeitlang nicht wie Eier, sondern wie Pfeffernüsse.