Der Mann aus Ikralututiak

Herr Severin war als junger Mann zur See gefahren, anfangs auf einem Frachter, später auf einem Passagier­schiff, das „Libertas" geheißen hatte. Irgendwann hatte ihn eine Krankheit befallen; er musste an Land gehen und ein Hospital aufsuchen - das war in Kanada. Nach seiner Genesung nahm er in Toronto eine Vertretung für Nähmaschinen an, die aus Europa herüber­kamen, aber die Arbeit lag ihm nicht. Nähmaschinen, brrr...
Eines Tages bekam er Heuer auf einem Schiff, das in die Arktis fuhr, um einzelne Handelsstationen mit Ware und Post zu versorgen, und manchmal nahmen sie einen Polizisten oder einen Pelzhändler mit.
Monatelang war Herr Severin in Schnee und Eis unterwegs gewesen, im Land der Mitternachtssonne, der Hun­deschlitten, Eskimos, Rentiere, Robben und Lemminge. Er konnte von Dingen erzählen, die ihm in den Kneipen kein Bauernbursche abkaufte, vor allem nicht die Ge­schichte von den Lemmingen, die sich scharenweise von der Küste hinab in den Tod stürzten. Nein, das war sicher übertrieben. Wenn er von den Lemmingen erzählte, war der Augenblick gekom­men, wo Herr Severin sagte: „Ich bin an Orten gewesen, deren Namen ihr nicht einmal nachsprechen könnt, zum Beispiel ‚Ikralututiak'. He, der Dicke da, sprich's nach!" ,
Der Dicke sagte, dass er den Namen gedruckt sehen wollte. Herr Severin ließ sich einen Bleistift geben und schrieb das Wort auf einen Bierdeckel. Ikralututiak, da stand es.Was bedeutet es?" fragten sie.
Herr Severin überlegte eine Weile. Dann sagte er: „Fünfzig Grad unter Null, das bedeutet es." Und es bedeu­tete ferner, dass er dort mit seinem kleinen kanadischen Dampfboot einen Winter lang im Eis festgesessen hatte und dass er außer Robbenspeck nichts zu essen gehabt hätte. In Ikralututiak gab es eine Polizeistation, eine Han­delsniederlassung und ein Dutzend Schneehütten, Iglus genannt, in denen die Jäger überwinterten, bevor sie im Frühjahr auf die Rentierjagd zogen.
Wenn der Hunger kam", sagte Herr Severin, „machte ich es wie die Eski­mos! Ich lauerte den Robben auf. Das heißt, ich musste bei 50 Grad unter Null aufs Meer hinaus und die Atem­löcher der Robben suchen. Ich verstopfte ringsum alle Löcher und ließ nur ein einziges offen. Auf einem Eis­bärenfell musste ich stundenlang vor dem Loch knien, um der auftauchenden Robbe den Schädel zu speeren."
Die Leber, das gab Herr Severin zu, war lecker, aber im Großen und Ganzen war Robbe nicht gerade ein Essen, auf das er versessen war. Er nannte es Glück, wenn ihm die Eskimos ab und zu einen Rentierknochen schenkten, den er mit einem Schraubenschlüssel aufsplitterte, um das Mark herauszu­schälen. Knochenmark war in Ikralututiak so gut wie Kuchen.
Gab es wenigstens was zu trin­ken", fragten sie.
Zu trinken?" Herr Severin schlug eine Lache an. „Ihr macht mir Spaß, das muss ich sagen. In Ikralututiak gab es Lebertran. Aber ich habe nie ge­hört, dass von Lebertran jemand lustig geworden ist."
Hahahaha, das wollten sie glauben. Genüsslich hoben sie ihre Gläser. Da­bei sahen sie Herrn Severin, den Fahrensmann aus dem Eskimoland, mit ehrfürchtigem Staunen an. Alles gelo­gen? Nein. Wie ein Lügner sah Herr Severin nicht aus.
Nichts als Robbenspeck und Kno­chenmark - was wollten Sie eigentlich damit sagen?" fragte jemand.

Aus: NT 1960