Geburtstage Jubiläen

 

 

 

An jenem Morgen, an dem mein Geburtstag beginnt, geschieht zunächst gar nichts. Keine Glocke läutet - jedenfalls nicht mir zu Ehren, kein Kanonenschuss hallt, kein Gesangverein tritt an, kein Trompeterchor marschiert auf, kein Telegrammbote klingelt, kein Blumenfräulein gibt Rosen ab, niemand sagt ein Gedicht auf.

Auch der Rundfunk rührt sich nicht, obwohl das Glückwunschkonzert für unsereinen die einzige Chance darstellt, einmal öffentlich erwähnt zu werden. Ich höre mir die Namen zahlreicher Geburtstagskinder an, denen das Rundfunkfräulein zu ihrem großen Tag Glück und Gesundheit und weiterhin alles Gute wünscht. Heimlich hoffe ich jedes Mal, das Rundfunkfräulein möge auch meinen Namen aussprechen, aber es ist von Jahr zu Jahr eine Enttäuschung.

Erst der Postbote trägt die Nachricht von meinem Geburtstag in die Wohnung. Meine Mutter hat geschrieben. In ihrem Herzen bin ich immer noch ihr »liebes Kind«, obwohl ich gar nicht erwachsener sein könnte, als ich es zur Zeit bin. Gerade heute wird mir dieser Umstand wieder bewusst. Niemand hat an mich gedacht, nur die Mutter.

Sie wird den Tag der Geburt ihres Kindes nie vergessen. Sie kann sich an jede Einzelheit erinnern, die mit dem Zur-Welt-Kommen ihres Kindes zusammenhing. Ihr Glückwunsch kommt immer pünktlich an. 
»Mein liebes Kind«, schreibt sie, »ich gratuliere dir, bleibe gesund, und weiterhin alles Gute.« Jedesmal fügt sie hinzu: »Ich bete für dich.«
 
Als ich noch daheim war, erzählte mir die Mutter an jedem meiner Geburtstage, dass sie an jenem Tag glücklich gewesen sei wie später nie wieder in ihrem Leben. Es war, als ich geboren wurde, ein herrlicher Frühlingsmorgen. Der Tag war gerade erwacht, durch das geöffnete Fenster duftete es nach Linden und Klee, eine Amsel sang im Birnbaum, und der Himmel über dem kleinen Dorf, in dem meine Eltern wohnten, hing voller Lerchen.
 
Ja, sie zählte so geringfügige Beobachtungen auf wie diese, dass der Apotheker nebenan früh aufgestanden sei, um den Kies auf dem Weg in seinem Garten zu harken. Dann kamen mit dem wachsenden Tag das Gurren der Tauben hinzu, das Geläut der Glocken, die zur Frühmesse riefen, der Klang von Pferdehufen auf dem Pflaster, Gezwitscher der Schwalben im Giebel der alten Scheune und das einfältige Gebrabbel der Hebamme, die der jungen Mutter versicherte, ein schöneres und klügeres Kind sei nie geboren worden.

Heute erinnere ich mich mit Vergnügen dieser Schilderung. Ich wohne in einer Großstadt, und ich kenne niemanden, den ich fragen kann, ob es auf dem Lande noch Linden gibt und ob dort Apotheker leben, die frühmorgens den Kies in ihrem Garten harken.

Wenn ich mir überlege, wie es weitergegangen ist in meinem Leben, dann bin ich mir sicher, dass es an dem Morgen meiner Geburt geregnet hat, der Himmel war grau wie Schiefer, und der Apotheker hatte Rheuma, sodass er überhaupt nicht aufstehen konnte, um zu harken.

Aber in der Erzählung meiner Mutter klang alles viel großartiger, und dafür danke ich ihr.

1970