Der Sechzehn (1971)

Es klingelt, und vor der Korridortür steht ein Junge, etwa fünfzehn Jahre alt, steht da und sagt kein Wort. Er scheint auf eine angeborene oder vielleicht sogar überlegte Art bequem zu sein, genauer gesagt: langsam. Der Junge, der geklingelt hat, trägt langes gewelltes Haar, das ihm bis auf die Schulter fällt.
„Guten Tag“, sage ich, "Sie wünschen?"
"Ist Gaby da?" fragt der Junge. Es hört sich an, als ob er jeden Buchstaben einzeln hervorbrächte. Gaby, ebenfalls fünfzehn Jahre alt, ist meine Tochter. Mir fällt sofort auf, daß auch Gaby ein Hemd trägt wie dieser Junge, ein Hemd aus weißem Baumwollstoff mit Stickereien, die an Indisches erinnern. Sie lesen ja jetzt Hermann Hesse, und Indien-Look ist letzter Schrei.
"Gabi ist nicht zu Hause", antworte ich, "kann ich etwas ausrichten?" Der Junge denkt nach. Ich höre deutlich, wie es innerlich in ihm knackt
und wie sich die Buchstaben sammeln und ruckartig austreten. „Gibt Gaby 'ne Party?"
"Davon weiß ich nichts", sage ich, "ich bin der Vater, und wenn es in meiner Wohnung eine Party gäbe, müßte ich es wissen“.
Im Gesicht des Jungen bewegt sich kein Muskel. Er ist ein Mensch ohne Mienenspiel. Seine dunkelblauen Augen sind starr auf den Türgriff gerichtet, als hätte er vor, diesen Türgriff zu hypnotisieren, wie es die Fakire tun. Auch seine Hände und Füße rühren sich nicht.
Ich möchte wissen, wie er in der Schule zurechtkommt, und ob er bei Grün den Übergang an der Verkehrsampel schafft. Aber offensichtlich ist er bei seiner langsamen Gangart und Sprechweise bis jetzt an Leben geblieben.
Eine Weile herrscht Schweigen zwischen uns. Auf seinem weißen Baumwollhemd sind Drachen eingestickt, Lotosblüten und Glöckchen. Vielleicht ist es auch ein chinesisches Hemd, und der Junge liest gar nicht mehr Hesse, sondern die Worte des Vorsitzenden Mao.
„Wo ist denn 'ne Party?" fragt er. Die Buchstaben tropfen geradezu.
"Weiß nicht“, erwidere ich. Ich ertappe mich dabei, daß ich ebenfalls anfange, langsam und überlegt zu sprechen. Dabei betrachte ich seine Beinkleider; sie sind verwaschen und müssen ursprünglich rot gewesen sein. Red Jeans, nicht wahr?
Wieder dieses minutenlange Schweigen und die Fortsetzung der Hypnose des Türgriffs.
Dann: „Ist in diesem Hause überhaupt nichts los?“
"Was soll schon los sein“, denke ich, "in diesem Hause wohnen gottlob ruhige Naturen, unter anderem der Mann, dem die Telefonseelsorge anvertraut ist." Aber wenn gleich der Türgriff anfängt zu strahlen und Mao-Sprüche aufzusagen, dann ist etwas los, so wahr dieser Junge hier vor mir steht. Ich schüttele den Kopf und sage: "Nichts zu machen, in diesem Hause ist nichts los."
Der Junge dreht sich ganz langsam um, richtig Zeitlupe, und geht Schritt vor Schritt, Buchstabe um Buchstabe, die Treppe hinab. Ein Fünfzehnjähriger mit langem gewellten Haar und Lotusblüten auf den Rücken, die er selbst gestickt hat.
Als Gaby nach Hause kommt, erzähle ich sofort, daß da so ein Junge war, der ganz langsam sprach und wissen wollte, ob hier 'ne Party stattfindet. "Das war der Sechzehn“, sagt meine Tochter.
"Bitte noch mal, wer war das?"
"Der Sechzehn."
'“Wieso Sechzehn? Seid ihr denn numeriert?
"Nein, das nicht. Er heißt Sechzehn, weil er so langsam spricht. Du weißt doch, daß es auf jeden Plattenspieler die Einstellung 16 gibt, die ist für Sprechplatten. Wenn man mit dieser Einstellung eine Langspielplatte ablaufen läßt, dann ist es so, als hörte man diesen Jungen reden oder singen.“